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15. Februar 2019

‚ELLViA‘ – Ein DiÖ-Satellitenprojekt stellt sich vor

Forschung, die ankommt!

Das ist uns zwei bisher auch noch nicht passiert. „Danke, dass Sie diese interessante Forschung machen!“, sagt die ältere Dame zum Abschluss noch und zieht von dannen, die Straße hinunter. Wir freuen uns unverhofft und machen weiter mit unserem Tagwerk. Das Meiste liegt noch vor uns: Der Graben im ersten Bezirk ist eine von Wiens belebtesten und dichtest bestückten Einkaufsstraßen, und dass er Teil des Untersuchungsgebiets ist, hat uns zunächst etwas besorgt gestimmt – das wird dauern! Letztlich werden wir hier fünf volle Arbeitstage verbracht haben. Aber es ist Frühsommer, das Wetter ist sonnig und es gibt definitiv Schlimmeres, als in der schönen Wiener Innenstadt Feldforschung zu betreiben.

Was machen wir denn da?

  Die ältere Dame hat uns angesprochen, weil wir einerseits offiziell und andererseits auch eigenartig wirken. Was machen wir hier? – wollte sie wissen. Ausgestattet mit T-Shirts („Hier forscht die Universität Wien“), Namensschildern, einem Clipboard (offensichtlicher kann man seriöse Arbeit nicht bekunden) und einem Fotoapparat wird lange herumgestanden, viel aufgeschrieben, und seltsame Dinge werden fotografiert. Touristinnen sind wir jedenfalls keine, sonst würden wir uns nicht bei den ganzen Verkehrsschildern, Mistkübeln und Straßenlaternen herumtreiben. Ob wir dokumentieren, wie die Restmüllmistkübel falsch verwendet werden (nämlich skrupellos für Altpapierentsorgung), wurden wir schon auf der Thaliastraße in Ottakring gefragt. Ob wir dafür zuständig seien, dass man entlang der hiesigen Einbahnstraße nicht mehr parken darf, wird jemand in Floridsdorf versuchen, sich bei uns zu beschweren. Und ob wir ohnehin nicht Gebäude fotografieren, um einen Einbruch zu planen, ist jemand in Währing misstrauisch.

Die Sprachlandschaft ruft!

Nein, das ist es alles nicht. Sondern: Wir (meine Assistentin Kathrin Dolmanitz und ich, Barbara Soukup) erheben zu dem Zeitpunkt gerade die Wiener Sprachlandschaft, so systematisch und gründlich, wie das noch nie jemand irgendwo auf der Welt gemacht hat. Gemäß einer gängigen Definition besteht eine Sprachlandschaft (‚linguistic landscape‘) aus allem, was an geschriebener Sprache im öffentlichen Raum vorkommt. ‚Schilder‘ sind der typischste Teil davon, aber es gibt fast unendlich viele Möglichkeiten, wo man sonst noch etwas Geschriebenes finden kann: auf einer Hauswand, auf einem Mistkübel, einem Kaugummiautomaten, Hydranten, Zaun, Fahrradständer, Postkasten, Baum oder auf dem Gehsteig oder der Straße selbst – und sogar auf einer Schraube, die einen Mistkübel an einer Stange mit einem Verkehrsschild befestigt. Geschrieben ist geschrieben. Und eines kann ich jetzt, nachdem die Feldforschung abgeschlossen ist, schon sagen: In einer beliebigen Wiener Straße findet man pro Meter durchschnittlich drei bis vier Dinge, auf denen irgendetwas geschrieben steht! (In Einkaufsstraßen wie dem Graben sind es sogar sechs.) Da gibt es also viel Sprachverwendung zu dokumentieren – deshalb brauchen wir auch so lange: bis zu acht Minuten für einen einzigen Straßenmeter.

Wozu brauchma des?

Jetzt stellt sich natürlich die berechtigte Frage, warum macht man das? (Vor allem, wenn ich über die vielen beschrifteten Schrauben rede, die wir gefunden haben, hat sich schon so manche/r zu wundern begonnen.) Meine Antwort: Es ist doch höchst interessant zu wissen, was ‚da draußen‘ an geschriebener Sprache vorhanden ist und, vor allem, wie und warum Sprache (welcher Art?) dabei verwendet wird. Schließlich werden wir von Geschriebenem im öffentlichen Raum laufend geradezu visuell bombardiert: Sobald man irgendwo in einer Stadt das Haus verlässt, begegnet man üblicherweise meinem Forschungsgegenstand. Auch wenn wir es nicht immer bewusst wahrnehmen, so ist es doch tagein, tagaus ein Teil unserer lebensweltlichen Erfahrung, der uns informiert, orientiert, reguliert, manipuliert (Werbung!). Wie genau findet also dieses allgegenwärtige Informieren, Orientieren, Regulieren und Manipulieren sprachlich statt?

Also wie schaut die Sprachlandschaft aus?

Wie gesagt, mein Projekt erforscht die Sprachlandschaft in Wien, und es interessiert mich insbesondere, einerseits, welche Formen und Verwendungen von Deutsch in Österreich sich finden lassen (Deutsch ist erwartet dominant – aber ist es spezifisch österreichisch? Und kommen auch dialektale Formen vor?) und andererseits, gemäß meinem Projekttitel, wie viel (und was für) Englisch sich schon ‚eingeschlichen‘ hat. Es heißt ja oft, dass auch im deutschsprachigen Raum überall schon so viel Englisch zu lesen ist – aber was sind die Zahlen und Fakten dazu? Im Detail wissen wir das einfach noch nicht.

  Meine Studie läuft noch ein paar Jahre, also sind die Ergebnisse noch im Entstehen, aber in Bezug auf DiÖ hat ja die IamDiÖ „Schnitzeljagd nach Schrift“ schon Einiges ergeben. Somit ist es höchste Zeit für ein paar Beispiele.

Hier gleich einmal ein sehr schönes Exemplar von (Wiener) Dialektverwendung im öffentlichen Raum (in einem Hinweis auf eine Pflanzentauschbörse):

Sehr bekannt für kreative Sprachverwendung sind die Kampagnen der Wiener Müllabfuhr (‚Die 48er‘):

 

In dieser Tradition beeindruckten uns die 48er sogar einmal mit einer Mehrfachkombination:

 

  Österreichischer Dialekt (‚ka‘) und Englisch (‚Contest‘) gleichzeitig eingearbeitet, und dann auch noch ein deutsch-englisches Wortspiel (‚Eurowischn‘)! Sprachlandschaftsforschung hat als Bonus oft einen großen Unterhaltungswert, weil sich viele Menschen hier sehr originell betätigen, auch um Aufmerksamkeit zu erregen.

Wer es lieber hochsprachlich aber doch österreichisch (süddeutsch) mag, kann sich immer wieder am Essvokabular (Nockerl!), aber auch am Fugen-s, erfreuen (einen Schweinsbraten – nicht: Schweinebraten – bitte).

Zurück zum Dialekt – diese Werbeaktion kennen sicher auch viele:

 

Hier wird scheinbar (mittelbairischer) Dialekt verwendet, um indirekt auf die (österreichisch-regionale) Herkunft des Produkts hinzuweisen. Eine Frage, die man sich dabei (einmal abgesehen von der Sinnhaftigkeit) stellen kann, ist: Würden diese tierischen Nahrungsmittel in der Hochsprache genauso gut schmecken? 

 

Was ist also der ‚Mehrwert‘ des Dialekts in der Werbung?

Sprache ist nicht neutral!

Sprachverwendung und Sprachwahl (geschrieben oder gesprochen) sind ja nie neutral – immer 

schwingen Assoziationen mit, die von der Gesellschaft oder ganz persönlich mit dem gewählten Sprachgebrauch verbunden werden. Also kann man davon ausgehen, dass Sprachwahl im öffentlichen Raum strategisch eingesetzt wird, zur Vermittlung solcher Assoziationen. Dialekt ist unsere Heimatsprache – sind also „Oa“ heimatlicher, vertrauter, natürlicher – und somit etwa qualitativ hochwertiger als „Eier“?

Englisch ist überall!

Nein, Englisch ist nicht wirklich überall: Aus dem derzeitigen Erkenntnisstand verschiedener Vorstudien meines Projekts kann man schließen, dass Englisch in ca. 15 % der Fälle von geschriebener Sprache im Wiener öffentlichen Raum vorkommt. Dagegen ist übrigens der durchschnittliche Anteil von Dialektverwendung, bei nur knapp einem Prozent, sehr gering. Das ist natürlich schon ein interessantes Zahlenverhältnis.

Illegal angebrachte Stickers scheinen eine Besonderheit darzustellen – da gibt es zwar nicht mehr Dialekt, aber Englisch findet sich sogar auf der Hälfte aller Dokumentierten (dazu gibt’s bereits eine fertige Studie: Schuster 2018). 

Bedeutet Englisch den Ausverkauf der deutschen Sprache?

(Hoch)deutsch dominiert nach wie vor mit überwältigender Mehrheit. Aber auf jeden Fall wird Englisch gerne im Ausverkauf verwendet:
 

Stellt sich also die Frage: Gibt’s in einem ‚Sale‘ cooleres G’wand als in einem Sommerschlussverkauf? Ist die Zielgruppe eine andere (jüngere)? Und: Ist ‚Sale‘ überhaupt noch ein englisches Wort heutzutage, oder ist es so allgegenwärtig, dass es schon ins Deutsche integriert ist? Im Duden steht’s noch nicht, jedoch sehr wohl im Österreichischen Wörterbuch (42. Auflage) – wenn auch noch als ‚Fremdwort‘… Und wenn der Sale ‚nicht mehr‘ Englisch wäre – wäre er dann eben auch automatisch nicht mehr so cool und hip, wie die englische Sprache laut Werbefachleuten auf uns wirken soll?

Vielleicht haben ja die gelernte Österreicherin und der gelernte Österreicher überhaupt eine größere Toleranz gegenüber Fremdwörtern als unsere deutschen Nachbarn – eine Fast-Food-Kette scheint das so zu sehen…

 

 

Fragen über Fragen – und Antworten? Demnächst im Projekt ELLViA!

 Forschungsfragen zur Sprachverwendung im öffentlichen Raum gibt es also genügend: Was gibt es, wie viel davon, wie wird es eingesetzt, wie wirkt es, warum ist es so, wie es ist. Daher gibt es mit ELLViA auch ein dankenswert spannendes Projekt zum Vorantreiben. Nach fünf Monaten Feldforschung warten 17.107 Datenpunkte (‚Dinge, wo was draufsteht‘) jetzt darauf, weiter ausgewertet zu werden. Sobald es etwas Neues gibt, erfahren Sie es bei ELLViA

Bis dahin: Augen offen halten! Und am besten gleich mit der Lingscape App selbst auf die Jagd gehen, bei IamDiÖ geht das ganz leicht. 

Trophäen zum Sammeln gibt es in Wien jedenfalls genug – viel Spaß da draußen in der Sprachlandschaft!


Weiterführende Literatur:

  Barbara Soukup ist Soziolinguistin und forscht als Elise-Richter-Stipendiatin in der Abteilung ‚Variation und Wandel des Deutschen in Österreich‘ des ‚Austrian Centre for Digital Humanities‘ (ACDH) an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie ist kooptierte Mitarbeiterin im Teilprojekt 08 des Spezialforschungsbereichs Deutsch in Österreich und Projektleiterin des SFB-DiÖ Satellitenprojekts „ELLViA – English in the Linguistic Landscape of Vienna, Austria“, das vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF finanziert wird (FWF #V394-G23).


Zitation
Barbara Soukup (2021): ‚ELLViA‘ – Ein DiÖ-Satellitenprojekt stellt sich vor.
In: DiÖ-Online.
URL: https://iam.dioe.at/blog/1820
[Zugriff: 21.11.2024]