DiÖ – Gesamt-SFB – Beitrag – Bericht
21. Juni 2017

Variation und Perzeption unter der andalusischen Sonne

Auf der “9th International Conference on Language Variation in Europe“ (ICLaVE 9) in Málaga zeigte der SFB “Deutsch in Österreich” von 6. – 9. Juni 2017 mit gleich zwei Panels eine starke Präsenz.

Bereits am ersten Tag präsentierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Task Cluster B und D gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus SFB-nahen Projekten in dem von Ludwig Maximilian Breuer und Lars Bülow organisierten Panel „Experimental approaches in the realm of language variation – new perspectives on data acquisition of linguistic variation“ erste Ergebnisse aus ihren Teilprojekten.

 

In ihrer Einleitung beschäftigten sich Ludwig Maximilian Breuer (PP01, PP03, PP11) und Lars Bülow (PP02) nach einem Gesamtüberblick über das Panel mit der Terminologiediskussion um den Begriff „Experiment“. Neben der Einbettung des Panels in den theoretischen Rahmen der „Complex Dynamic Systems Theory“ verdeutlichten sie an einem Beispielexperiment zur Possession im Wienerischen, dass die Konzepte von „Standarddurchgang“ und „Dialektdurchgang“ von den Gewährspersonen gut angenommen werden und tatsächlich unterschiedliche Ergebnisse in der jeweiligen Varietät liefern.

Unter dem Titel „Phoneme change and cognition: a neurolinguistic approach on cross-dialectal comprehension“ präsentierte Manuela Lanwermeyer von der Universität Marburg Ergebnisse aus einer ERP-Studie zur Simulation dialektübergreifender Kommunikation zwischen Sprecherinnen und Sprechern des Mittelbairischen und des Alemannischen in Bayern. Aus der Literatur ist bekannt, dass es bei spezifischen Lexemen immer wieder zu Missverständnissen kommt; diese wurden nun in dem ERP-Experiment untersucht. Es zeigte sich, dass beim Hören des fremden Dialekts die neuronalen Verarbeitungskosten im Vergleich zum eigenen Dialekt deutlich erhöht sind. Insgesamt ermöglichen neurolinguistische Experimente in der Variationslingusitik interessante neue Einblicke in das Zusammenspiel zwischen Sprache und Kognition, die durch Produktionsdaten nicht möglich sind.

 

Kristina Herbert und Stefanie Edler vertraten das SFB-Teilprojekt PP04 mit dem Vortrag „Grasping urban language – setting up a framework for analysing variation in cities and their surroundings”. Neben einer umfassenden Vorstellung der unterschiedlichen Erhebungsmethoden von PP04 präsentierten sie erste Ergebnisse zum vertikalen Spektrum einer Grazer Gewährsperson. Außerdem wiesen sie darauf hin, dass sich eine innerhalb von PP04 erprobte Erhebungsmethode für die Elizitation emotionaler Sprache besonders gut eignet: Es handelt sich dabei um das Erzählen eines imaginierten ärgerlichen Erlebnisses (z. B. wiederholtes Treten gegen den Kinositz der erzählenden Person, deren Bitten das zu unterlassen geflissentlich ignoriert werden). Die bisherigen Gewährspersonen konnten sich in diese imaginierten Situationen überraschend gut hineinversetzen und reagierten mit stark emotional gefärbter Sprache.

 

In dem Vortrag „Austrian German in the minds of their speakers: perspectives – challenges – empirical approaches“ präsentierte Wolfgang Koppensteiner (PP08) die theoretischen Hintergründe, die von ihm und Eva Fuchs (PP10) ausgearbeiteten Methoden sowie erste Ergebnisse der Projektteile PP08 und PP10 zur Perzeptionslinguistik und zu Spracheinstellungen. Vielfältige quantitative und qualitative Methoden kommen zum Einsatz: Neben breit angelegten Onlinefragebögen mit etwa 900 TeilnehmerInnen sollen in die Tiefe gehende Hörerurteilstests, Interviews, Gruppendiskussionen und gelenkte Freundesgespräche mit ausgewählten Gewährspersonen ein umfassendes Bild zu Spracheinstellungen in Österreich ergeben. Erste Ergebnisse zur Wahrnehmung des Standards bei ausgewählten Sprecherinnen und Sprechern zeigen, dass „Hochdeutsch“ in Österreich in erster Linie in formellen Kontexten gesprochen wird, um das allgemeine Verständnis zu erleichtern, und dass es sich vor allem durch eine neutrale, nicht regional gefärbte, „schöne“ Aussprache auszeichnet, die schwierig zu realisieren ist.

Schließlich wies Katharina Korecky-Kröll (PP03) in ihrem Vortrag „Vertical variety spectra in rural Austria: an experimental approach to the collection of morphological data along the dialect-standard axis” darauf hin, dass experimentelle Ansätze zur Erforschung von Phänomenen mit niedriger Vorkommenshäufigkeit unerlässlich sind, weil spontansprachliche Settings nicht genügend Evidenz liefern. Zwei unterschiedliche Experimente zur deutschen Adjektivsteigerung (ein Sprachproduktionstest mit 32 alten und jungen Dialektsprecherinnen und -sprechern aus 4 kleinen ländlichen Gemeinden Österreichs und ein Grammatikalitätsbeurteilungsexperiment mit 210 in Wien lebenden jungen Erwachsenen) zeigten ähnliche Ergebnisse in bezug auf die unterstützende bzw. „variationsmindernde“ Funktion des Umlauts und der Derivationssuffixe. Die größte morphologische Variation mit 15 verschiedenen Steigerungsformen fand sich im Sprachproduktionstest für das Lemma „trocken“: die Komparative trockener, trockenerer, trockner, trickaner, trickner sowie die Superlative trockensten, trocksten, trockesten, truckersten, trocknesten, truckatsten, tröckschtna, trickenschten, trickersten und tröckneschte.

 

Christoph Purschke von der Universität Luxemburg leitete die finale Diskussion des Panels, die sehr angeregt verlief. Bei der Terminologiediskussion äußerten die Teilnehmenden unterschiedliche Präferenzen für die zentralen Begriffe („experiment“, „quasi-experiment“, „laboratory setting“ etc.), wobei keine klare Einigung erzielt werden konnte. Diese Diskussion wird daher bei nachfolgenden Tagungen wohl fortgesetzt werden.

 

Am Donnerstag leitete SFB-Projektleiterin Alexandra N. Lenz das zweite Panel mit dem Titel „Is syntactic variation special?“ In ihrem Einleitungsvortrag „Is syntax special? An introduction“ stellte sie erste Ergebnisse zu den SFB-Syntaxexperimenten zum Rezipientenpassiv und zum Complementizer Agreement vor.

Timo Ahlers präsentierte in seinem Vortrag „Variety-knowledge effects on syntactic saliency“ die Ergebnisse einer Online-Fragebogenerhebung zur Beurteilung syntaktischer Phänomene des Bairischen durch 435 Sprecherinnen und Sprechern aus Österreich, Deutschland und der Schweiz im Hinblick auf syntaktische Salienz.

Ludwig Maximilian Breuer ging in seinem Vortrag „Syntactic variation and the city: computer supported language production tests for eliciting tun-periphrasis in Viennese German“ besonders auf methodische Fragen zu den Sprachproduktionstests sowie auf Steuerungsfaktoren ein, die auf die Verwendung der “tun“-Periphrase einen verstärkenden Einfluss haben.

Henk Rosenkvist von der Universität Göteborg diskutierte in seinem Vortrag „Syntactic variation in non-standard Swedish – a case for syntactic vernacular universals in Germanic?” anhand von vier Phänomenen aus schwedischen Dialekten die Frage von syntaktischen Dialektuniversalien. 

In seinem Vortrag „Structural dialectology of the Dutch language area” behandelte Sjef Barbiers von der Universität Leiden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Grammatiken des Flämischen, Süd- und Nordbrabantischen und Niederländischen in bezug auf mehrere syntaktische Phänomene (z. B. Artikelverdopplung, Complementizer Agreement). 

Die von Jenny Cheshire geleitete Schlussdiskussion ergab neben interessanten Diskussionsbeiträgen zum aktuellen Forschungsstand und zu einer vielversprechenden Zukunft der syntaktischen Forschung in der Variationslinguistik auch eine klare Antwort: „Yes, syntactic variation is indeed special.“

Insgesamt war die ICLaVE 9 eine höchst interessante und produktive Tagung, bei der auch das Netzwerken in Form von gemeinsamen Abendessen, Stadtspaziergängen und Ausflügen nicht zu kurz kam. Außerdem konnten wir viele positive Rückmeldungen zum Mixed-Methods-Design des SFB verbuchen und so die Präsenz des Projekts innerhalb der europäischen Variationslinguistik stärken.


Zitation
Korecky-Kröll, Katharina (2021): Variation und Perzeption unter der andalusischen Sonne: Task Cluster B und D auf der ICLaVE 9 in Málaga.
In: DiÖ-Online.
URL: https://iam.dioe.at/blog/697
[Zugriff: 26.04.2024]