Wird der Wortschatz durch Telefon, Mail, Twitter usw. kleiner?

beantwortet von: Markus Pluschkovits

Wie kam ich zur Forschungsfrage?

Die Forschungsfrage wurde bei der Langen Nacht der Forschung 2018 gestellt, und hat seither auf eine Antwort gewartet. Ich beschäftige mich bei dem Forschungsprojekt (dem SFB Deutsch in Österreich) vor allem mit Sprache und Technologie, deswegen hat mich diese Frage ganz besonders interessiert. Außerdem verbringe ich relativ viel Zeit auf Social Media, wie zum Beispiel Twitter oder Instagram, und poste dort auch gern – auch wenn mich meine jüngere Schwester dabei ‚cringe‘ (das Jugendwort 2021, das so viel wie ‚peinlich‘ bedeutet) findet.

Was war die Forschungsfrage?

Die Forschungsfrage selbst ist hier besonders spannend – in der Sprachwissenschaft wird der Begriff ‚Wortschatz‘ nämlich auf verschiedene Arten gebraucht. Der ‚Wortschatz‘ kann alle Wörter einer bestimmten Sprache meinen (z.B. alle Wörter des Deutschen). Je nachdem, wie man Wörter zählt (nimmt man beispielsweise ‚laufen‘ und ‚lief‘ als zwei verschiedene, oder als ein Wort? Oder zählt man ‚Läufer‘ als ein Wort, obwohl es zwei verschiedene Bedeutungen hat [Schachfigur/laufender Mann]?), kommt man auf eine unterschiedliche Anzahl von Wörtern im deutschen Wortschatz – in der aktuellen Ausgabe des Duden-Rechtschreib-Wörterbuch findet man 148.000 Stichwörter1, im Wörterbuch der Gebrüder Grimm befinden sich, je nach Schätzung, zwischen 350.000 und 450.000 Wörter2. Der gesamte Wortschatz des Deutschen wird, etwas ungenau, auf etwas zwischen 70.000 und 10 Millionen Wörter geschätzt.3 Genauere Schätzungen gehen davon aus, dass der deutsche Wortschatz etwa 300.000 bis 500.000 Wörter umfasst.4 Dass diese Schätzungen so weit auseinandergehen, hat auch damit zu tun, dass man sich nicht wirklich einig sein kann, was alles Teil des Wortschatzes ist. Wenn man beispielsweise jede mögliche chemische Stoffbezeichnung auch als Teil des deutschen Wortschatzes dazuzählen möchte, würden plötzlich bis zu 20 Millionen Wörter dazukommen!5

Der Begriff ‚Wortschatz‘ kann auch alle Wörter meinen, die ein einzelner Mensch kennt. Hier wird zwischen dem sogenannten ‚aktiven‘ und ‚passiven‘ Wortschatz unterschieden. Unter dem passiven Wortschatz versteht man dabei alle Wörter, die ein Mensch kennt und versteht. Der aktive Wortschatz besteht aus allen Wörtern, die ein Mensch tatsächlich beim Schreiben oder Reden gebraucht. Generell ist der passive Wortschatz eines Menschen immer größer als der aktive – man versteht also mehr Wörter, als man selbst benutzt. Es ist aber auch dementsprechend schwer, die Größe des aktiven und passiven Wortschatzes eines Menschen zu messen. Der aktive Wortschatz des Deutschen wird dabei oft auf zwischen 6.- und 10. 000 Wörter geschätzt, der passive Wortschatz auf etwa 16.- bis 100. 000 Wörter.6

Was heißt das für unsere Forschungsfrage?

Wie wir sehen ist es also ziemlich schwierig, den Wortschatz des Deutschen, und den Wortschatz einzelner Sprecher*innen tatsächlich zu messen. Dementsprechend schwierig scheint es also auch, beantworten zu können, ob Medien wie Telefonie, Mails, oder Social Media einen Einfluss auf die Größe des Wortschatzes haben können. Wir können aber – mithilfe von zwei Anhaltspunkten – trotzdem eine plausible Vermutung abgeben.

Wie sammelt man Daten für so eine Forschungsfrage?

Bei der Recherche nach Literatur zum Thema Wortschatz und Medien wie Telefon hat mich ein Beitrag insbesondere stutzig gemacht – in diesem wird behauptet, dass der Wortschatz für SMS-Konversationen nur etwa 100 bis 200 Wörter umfasst.7 Das hat mich nicht nur verblüfft, weil es mir sehr wenig erschien, sondern auch, weil die Autorinnen in keiner Weise erklärt haben, wie sie auf diese Zahl gekommen sind. In der (Sprach-)Wissenschaft ist es sehr unüblich, solche Behauptungen aufzustellen, ohne zu erklären, wie man auf diese kommt. Auch andere Sprachwissenschafter*innen haben zu dieser Frage Stellung genommen – und sind auf ganz andere Ergebnisse gekommen. In einer Studie, in der auch erklärt wird, mit Hilfe welcher Daten man zu einem Ergebnis kam, wurde etwa die lexikalische Diversität – vereinfacht gesagt, wie viele verschiedene Wörter in einem Text mit bestimmter Länge vorkommen – errechnet. Dabei hat sich herausgestellt, dass in SMS-Konversationen eine beachtliche lexikalische Diversität zu finden ist – beispielsweise mehr als in den Texten von Newstickern.8 Unser erster Anhaltspunkt ist daher, dass (zumindest in SMS-Konversationen) anscheinend viele verschiedene Wörter verwendet werden. Das spricht dagegen, dass dadurch der Wortschatz kleiner wird.

Was kann man zu dieser Frage noch schlussfolgern?

Unser zweiter Anhaltspunkt, der uns helfen kann, diese – etwas schwierige – Forschungsfrage zu beantworten findet sich in der Natur von Sprache selbst. Die Verwendung von Sprache ist domänenspezifisch: das bedeutet einfach gesagt, dass man Sprache in gewissen Bereichen (dafür stehen die „Domänen“) unterschiedlich verwendet. Am klarsten sieht man das in dem Unterschied zwischen geschriebener und gesprochener Sprache – wenn man beispielsweise mit Freund*innen spricht, verwendet man ganz andere Wörter und Satzstellungen als wenn man beispielsweise einen Brief schreibt. Diese sogenannte Domänenspezifik betrifft auch die Sprachverwendung bei beispielsweise Emails, Twitter, oder WhatsApp-Nachrichten – man verwendet Sprache dabei anders als beispielsweise in einem persönlichen Gespräch. Dabei haben sich einige Wörter in den Wortschatz integriert, die davor noch kein Teil des Wortschatzes waren – wie beispielsweise ‚lol‘ (eine Abkürzung für ‚laughing out loud‘, also lautes Lachen) oder ‚retweeten‘ (einen Tweet auf Twitter verbreiten).

Wird der Wortschatz also durch Telefon, Mail, Twitter usw. kleiner?

Anhand unserer beiden Anhaltspunkte können wir wohl sagen, dass der Wortschatz durch Telefon, Mail, Twitter und ähnlichen Medien nicht kleiner wird. Tatsächlich scheint es so, als könnte man behaupten, dass der Wortschatz durch diese Medien eigentlich größer wird. Wir haben gesehen, dass zum Beispiel SMS-Konversationen eine beachtliche Vielfalt an Wörtern aufweisen können. Außerdem haben sich manche Begriffe erst durch diese Medien im Deutschen verbreitet. Momentan scheint es so, als könnte man vielleicht sogar Emojis als Vergrößerung des Wortschatzes verstehen. In unserem Wortsammeltool „Wortgut“ gibt es zum Beispiel eine ganze Sammlung von Emojis mit deren Bedeutung in Textnachrichten – gesammelt von Schüler*innen einer Wiener Schule!

Fußnoten

1 Duden (ohne Jahr): „Der Umfang des deutschen Wortschatzes.“ Online. https://www.duden.de/sprachwissen/sprachratgeber/Zum-Umfang-des-deutschen-Wortschatzes [abgerufen am 28.01.2022].

2 Klein, Wolfgang (2013): „Von Reichtum und Armut des deutschen Wortschatzes.“ In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hg.): Reichtum und Armut der deutschen Sprache: Erster Bericht zur Lage der deutschen Sprache, Berlin, Boston: De Gruyter, 19.

3 Klein, Wolfgang (2013): 19.

4 Homberger, Dietrich (2003): „Wortschatz.“ In: Sachwörterbuch zur Sprachwissenschaft. Stuttgart: Reclam, 633.

5 Winter, Horst (1986): „Benennungsmotive für chemische Stoffnamen.“ In: Special Language/ Fachsprache 8, 155–162.

6 Schnörch, Ulrich (2015): „Wortschatz.“ In: Ulrike Haß und Petra Storjohann (Hg.): Handbuch Wort und Wortschatz. Berlin, Boston: de Gruyter, 15.

7 Knipf-Komlósi, Elisabeth, Roberta V. Rada & Bernáth Csilla (2006): Aspekte des Wortschatzes: ausgewählte Fragen zu Wortschatz und Stil. Budapest. http://mek.oszk.hu/04900/04913/04913.pdf [letzter Zugriff: 28.01.2022], 15.

8 Siever, Torsten (2015): „Das Wort in der Netzkommunikation.“ In: Ulrike Haß und Petra Storjohann (Hg.): Handbuch Wort und Wortschatz. Berlin, Boston: de Gruyter, 63–65.

Beantwortet hat diese Frage:

Mag. Markus Pluschkovits

Ist seit Ende 2019 als Projektmitarbeiter bei PP11 Teil des SFB Deutsch in Österreich und dabei für Belange rund um die digitale Forschungsplattform zuständig. Seit 2021 lehrt er außerdem im MA Digital Humanities. Er interessiert sich vor allem für Sprachdaten und deren Aufbereitung mit digitalen Methoden.