Woher kommt das falsche -s- in Adventskalender?
beantwortet von: Manfred „Manzi“ Glauninger
Wie bist du zu dieser (Forschungs-)Frage gekommen?
Sie ist mittels Online-Formular auf der Website von IamDiÖ gestellt worden. Das hat einerseits sicher damit zu tun, dass jetzt der Advent beginnt. Andererseits zeigt die Frage aber auch, dass gerade auf den ersten Blick unauffällige sprachliche Merkmale bzw. kleine Unterschiede zwischen sprachlichen Formen für die Menschen eine große Bedeutung haben können und sie oft emotional bewegen. Im Online-Formular wurde ergänzend angemerkt: „Es heißt doch wohl immer schon Adventkalender!“
Welche Methode hast du gewählt? Wie bist du an die Frage herangegangen?
Die Frage dreht sich um das „Fugenelement“ bei der Bildung von zusammengesetzten Wörtern (sprachwissenschaftlich ausgedrückt: „Komposita“) in der deutschen Sprache. Wenn man beispielsweise aus den zwei Wörtern Küche und Tisch das Wort Küchentisch bildet, nennt man die Stelle, an der die beiden Wörter „zusammengefügt“ werden, die „(Kompositions-)Fuge“. Oft tauchen an dieser „Fuge“ zusätzliche Laute (bzw. im Schriftbild: Buchstaben) auf, die man als „Fugenelemente“ bezeichnet – in unserem Beispielwort Küchentisch handelt es sich um den Laut bzw. den Buchstaben -n-.
In von mir zu Rate gezogener linguistischer Fachliteratur, die sich mit diesen Fugenelementen befasst, wird darauf hingewiesen, dass es hier im Deutschen eine erhebliche Vielfalt an Möglichkeiten (anders gesagt: „Variation“) gibt – aber keine eindeutigen Regeln. Mögliche Fugenelemente sind beispielsweise -e- (Hundeleine), -er- (Kindergeld), -o- (Elektroschock) und besonders häufig das in unserem Fall relevante -s- (Auskunftsperson, Spitalsaufenthalt). In vielen – aber bei weitem nicht allen – Fällen entspricht das Fugenelement jenen Lauten (bzw. Buchstaben), die auch in bestimmten grammatischen Formen des ersten Wortes des Kompositums in Erscheinung treten, wenn dieses erste Wort außerhalb des zusammengesetzten Wortes alleine verwendet wird. Beispiele sind -er oder -e als Zeichen für den 1. Fall der Mehrzahl (Kinder → Kindergeld, Hunde → Hundeleine) oder -es für den 2. Fall der Einzahl (Bundes → Bundesland).
Vielfach ist das Fugenelement aber auch nicht auf solche grammatischen Formen zurückzuführen, sondern ursprünglich aus Gründen der leichteren Aussprache und / oder einfach nach dem Vorbild anderer Zusammensetzungen gebildet worden (Auskunftsperson, Aufnahmsprüfung). Zahlreiche Komposita werden auch ohne Fugenelement gebildet (Haustür) – man spricht dann sprachwissenschaftlich auch von einer „Nullfuge“. Und in manchen Zusammensetzungen erscheint das erste Wort sogar in gekürzter Form (Kronprinz, Seelsorger).
Dazu kommt noch, dass zuweilen ein und dieselbe Zusammensetzung unterschiedliche Fugenelemente haben kann. Genau darauf zielt auch die Frage des Monats ab: Es gibt die Form Adventkalender, aber auch Adventskalender ist in Gebrauch (dasselbe gilt für Advent(s)kranz, -lied etc.). Meine Recherche im Internet sowie die Einträge in einschlägigen Wörterbüchern (Online-Duden, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, Variantenwörterbuch des Deutschen, Österreichisches Wörterbuch) haben – wie zu erwarten war – ergeben, dass die Zusammensetzungen mit Advent- (also ohne -s-) als „österreichisch“ gelten, Formen mit -s- (Advents-) hingegen Deutschland sowie der deutschsprachigen Schweiz zugeschrieben werden.
Woher kommt also das -s- in Adventskalender und ist es wirklich „falsch“?
Die Staatsgrenze zwischen Österreich und Deutschland ist keine undurchlässige Sprachgrenze. Beide Länder liegen übergangslos nebeneinander im deutschen Sprachraum und sind seit Jahrhunderten auf vielfache Weise miteinander verbunden. Gegenwärtig, im Rahmen des Binnenmarktes der Europäischen Union, gilt das mehr denn je – kulturell, wirtschaftlich, politisch und somit auch sprachlich. Dazu entfalten weltumspannende Entwicklungen wie die „Globalisierung“ und die Kommunikation im Internet ihre Wirksamkeit auf den Sprachgebrauch. Es ist vor diesem Hintergrund wenig überraschend, dass in Österreich auch Adventskalender (mit -s-) zu lesen und zu hören ist – in den Medien, als Produktbezeichnung im Handel oder auch im alltäglichen Sprachgebrauch. Es wäre höchst ungewöhnlich, wenn das nicht der Fall sein würde.
Die Frage des Monats, aber auch die Chats diverser Internet-Foren zeigen allerdings, dass in Österreich die -s-Form Adventskalender häufig als „(bundes-)deutsch“ wahrgenommen und deshalb abgelehnt wird. Die Verwendung von Adventkalender (ohne -s-) wird oft sogar dezidiert eingefordert. Grund: Das „bundesdeutsche“ Deutsch lässt in Österreich zuweilen die Wogen der Emotion hochgehen. (Man denke beispielsweise auch an Schweinsbraten und Schweinebraten – wobei hier bezeichnenderweise, im Gegensatz zu Adventskalender, die Form mit -s- als „österreichisch“ gilt.) Die Ablehnung des „bundesdeutschen“ Deutsch gilt jedoch zunehmend eher für die ältere Generation der österreichischen Bevölkerung. Wie aber diese Diskussionen „bundesdeutsch“ versus „österreichisch“ aus sprachwissenschaftlicher Sicht zu beurteilen sind, kann und soll an dieser Stelle nicht näher behandelt werden.
Die Antwort auf die Frage, ob das -s- in Adventskalender „falsch“ ist, hängt somit von der persönlichen Einstellung hinsichtlich der Tatsache ab, dass – aus den genannten Gründen – „bundesdeutsches“ Deutsch auch in Österreich verbreitet ist. Es spielt – ob akzeptiert oder nicht – im Leben und Kommunizieren der österreichischen Bevölkerung durchaus eine Rolle. Für die meisten Menschen in Deutschland hingegen ist das „österreichische“ Deutsch irrelevant oder sogar unbekannt. Das hat mit der ungleichen politischen und wirtschaftlichen Macht der beiden Staaten zu tun – Deutschland hat immerhin zehnmal so viele Einwohner wie Österreich. Gerade dieses Ungleichgewicht kann aber sprachlich auch als Vorteil für die Österreicherinnen und Österreicher interpretiert werden: deren Spektrum bzw. Repertoire in Bezug auf die deutsche Sprache ist in mancher Hinsicht facettenreicher als jenes vieler Deutscher. Das zeigt sich unter anderem im Nebeneinander der beiden Wortformen Adventkalender und Adventskalender, das in Österreich zu beobachten ist. Die Menschen in Deutschland müssen sich nämlich mit nur einer Form – Adventskalender – begnügen.
Beantwortet hat diese Frage:
PD Mag. Dr. Manfred Glauninger
Er ist Soziolinguist, forscht an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Austrian Centre for Digital Humanities / Abteilung Variation und Wandel des Deutschen in Österreich), lehrt an der Universität Wien (Institut für Germanistik) und ist kooptierter Mitarbeiter in den Teilprojekten 05 und 08 des Spezialforschungsbereichs Deutsch in Österreich.