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Wie ‚Englisch‘ ist Wien? – Ergebnisse des DiÖ-Satellitenprojekts ‚ELLViA – English in the Linguistic Landscape of Vienna, Austria‘
Im Jahr 2019 habe ich in diesem Forum mein Projekt „ELLViA – English in the Linguistic Landscape of Vienna, Austria“ vorgestellt, das sich gleichsam als ‚Satellit‘ im Orbit des Planeten DiÖ tummelt – oder vielmehr, getummelt hat: Mit Ende September 2021 ist ELLViA nun beendet. Aus diesem Anlass und zu meiner großen Freude darf ich nun an dieser Stelle einige Ergebnisse aus dem Projekt berichten.
Wie viel ‚Englisch‘ gibt es also in Wien?
Wie viel englische Sprache man in Wien auffindet, das war die zentrale Leitfrage meines Projekts. Der Bezugsrahmen ist dabei die sogenannte ‚Sprachlandschaft‘ (‚Linguistic Landscape‘/ ‚LL‘), also alles, was so an geschriebener Sprache im öffentlichen Raum anzutreffen ist.1
Nun könnte man ja meinen, die Linguistic Landscape bestehe einfach aus ‚Schildern‘:
Das Duden Bedeutungswörterbuch definiert zum Beispiel ‚Schild‘ wie folgt:2
Aber wie unterscheidet sich eigentlich ein klassisches ‚Schild‘ wie das weiter oben gezeigte von folgender Aufschrift?
Das ist zwar auf den ersten Blick weniger ‚schild-haft‘, aber trotzdem ‚beschriftet oder mit Zeichen o.ä. versehen‘, und es ‚weist auf etwas hin‘. Tatsächlich ist es ein Bolzen, der ein Verkehrsschild befestigt und anzeigt, dass er aus austenitischem Edelstahl (‚A‘) in Form von Kaltstauchstahl legiert mit Chrom und Nickel (‚2‘) besteht, eine Zugfestigkeit von mindestens 700N/mm2 aufweist (‚70‘), und von einer Firma mit dem Kürzel ‚THE‘ (hier sei aber keine Werbung gemacht) angefertigt wurde.3
Die LL besteht eben nicht nur aus Schildern
Auch das ist also die Sprachlandschaft: Aufschriften auf alltäglichen Gegenständen. Wenn man die gängige Definition einer ‚Einheit‘ der LL (eines Stücks der LL, eines ‚LL-Items‘) anwendet, nämlich, dass damit ‚jedes Stück geschriebener Text in einem räumlich abgrenzbaren Rahmen‘ gemeint ist,4 dann sind tatsächlich auch solche Bolzen ein Teil der Daten, den es zu erheben gilt.
Auf dieser Basis wurde im Rahmen von ELLViA die Sprachlandschaft auf insgesamt 4,8 Straßenkilometern in sechs Wiener Gemeindebezirken genaustens dokumentiert.5 Circa 68 Prozent meines ELLViA-Datensatzes bestehen auch tatsächlich aus eher prototypischen ‚Schildern‘; der Rest umfasst Aufdrucke auf Gegenständen, die noch eine zusätzliche Funktion zur rein hinweisenden besitzen (wie z.B. die Bolzen, sowie Aufschriften auf Hydranten, Kanaldeckeln, Türen, Automatenknöpfen usw.).
Einige Arten von Aufschriften wurden dann aber doch von der Datensammlung ausgeschlossen, nämlich ‚vergängliche‘, ‚verschwindende‘ Texte: jene von T-Shirts oder Tätowierungen der Passant*innen, auf Bussen oder Autos, sowie Verbrauchsgegenständen wie lose Zeitungen, Speisekarten, Flyer.6
Die Wiener LL ist drei bis vier ‚Items‘ pro Straßenmeter ‚dicht‘
Insgesamt ist schließlich ein Datensatz von 17.091 Stück ‚LL-Items‘ (Aufschriften) in meinem Untersuchungsgebiet zusammengekommen. Man kann daraus errechnen, dass auf einer beliebigen Wiener Straße drei bis vier Aufschriften pro Meter vorkommen – vielleicht wenig überraschend mehr in Einkaufsstraßen (nämlich durchschnittlich sechs) als in Wohnstraßen (nämlich durchschnittlich nur eine).
Ein Drittel des gesamten Datensatzes lässt sich aber eigentlich nicht nach einer bestimmten Sprache kategorisieren, weil nur einzelne Buchstaben, Ziffern und/oder sprachlich intransparente Namen darauf zu finden sind. Drei Prozent des Datensatzes sind (häufig unleserliche) Graffiti.
Zwei Drittel des Datensatzes lassen sich aber sehr wohl darauf untersuchen, ob Englisch oder andere Sprachen darin vorkommen. Wir sind somit beim zentralen Ergebnis von ELLViA angelangt, das da lautet:
Die Wiener Sprachlandschaft ist zu circa dreißig Prozent (also knapp einem Drittel) Englisch!
Allerdings sind nur 11% davon wirklich einsprachig Englisch. Deutsch regiert hingegen auf fast 70% aller Aufschriften allein; der Rest ist großteils mehrsprachig (insbesondere Deutsch-Englisch). Andere Sprachen kommen übrigens nur auf etwa zwei Prozent der Aufschriften vor (allen voran Französisch und Italienisch); österreichischer Dialekt (in jeglicher Form) sogar nur auf weniger als einem Prozent.
Ist das jetzt sehr Englisch?
Ein sehr großes Projekt im deutschen Ruhrgebiet hat ca. 20% Englisch im Datensatz gefunden. In Rom wurden einmal 32% festgestellt, in Tokyo 19%.7 Vergleiche von Sprachlandschaften sind aber immer ein bisschen schwierig und mit Vorsicht zu genießen, weil verschiedene Projekte einfach verschiedene Schwerpunkte setzen. Ein Angleichen der Methoden wäre jedenfalls ein sinnvolles Zukunftsprojekt.
Englisch in Wien – wo und warum?
Ein weiteres zentrales Forschungsinteresse von ELLViA war es herauszufinden, welche Faktoren das Vorkommen von Englisch in Wien begünstigen. Statistische Analysen des Datensatzes zeigen nun, dass Englisch überdurchschnittlich gerne in Kontexten der Gastronomie und Hotellerie vorkommt – hingegen aber sehr selten in der öffentlichen Verwaltung. Erhöhte Tourismusaktivität im Bezirk begünstigt allgemein die Verwendung von Englisch. Aber obwohl man vielleicht meinen könnte, dass Englisch auch innerhalb der Wiener Bevölkerung als ‚Lingua Franca‘ (Verkehrssprache bei unterschiedlichen Muttersprachen) fungiert, nimmt die Häufigkeit von Englisch bei erhöhter Mehrsprachigkeit der lokalen Bezirksbevölkerung tatsächlich ab. Wie es scheint ist und bleibt die Verkehrssprache in Wien also Deutsch.
Und wozu jetzt das Ganze?
Letztes Mal habe ich schon über die Motivation solcher LL-Studien geschrieben, nämlich, dass wir von Geschriebenem im öffentlichen Raum laufend geradezu visuell bombardiert, und gleichzeitig informiert, orientiert, reguliert und manipuliert werden. Die Häufigkeit, mit der wir gewisse Sprachen antreffen, ist ein Teil der Information, die wir daraus ziehen. So sagt uns die Kognitionswissenschaft, dass eine vermehrte Häufigkeit des Auftretens eines Phänomens den Effekt haben kann, dass wir ihm gegenüber positiver gesinnt werden.8 Je öfter wir eine Sprache in der LL antreffen, umso mehr könnten wir sie also einfach ‚mögen‘.
Gleichzeitig assoziieren wir verschiedene kulturelle Stereotype mit den verschiedenen Sprachen und beziehen diese in unsere Interpretation der Umwelt ein, sodass der ‚Summer Sale‘ wohl eine andere Bedeutung hat als der ‚Sommerschlussverkauf‘ (und wir die Attraktivität der entsprechend beschilderten Geschäfte je nach unseren Vorlieben unterschiedlich einschätzen).
Wie viel Englisch es in Wien gibt, ist nicht trivial!
Es ist also ganz allgemein nicht ‚egal‘, welche Sprache wie oft und wo im öffentlichen Raum verschriftet vorkommt. Kulturelle Vorlieben ebenso wie soziale Machtverhältnisse werden auf diese Art ausgehandelt (nur was erlebt wird, ist auch wahrnehmbar). Manche Sprachen kommen öfter (Deutsch, Englisch), manche seltener bis gar nicht vor (zum Beispiel die in Österreich anerkannte, heimische Minderheitensprache Romani).
So gestalten und interpretieren wir dann unsere Umwelt, in all ihrer laufenden Veränderlichkeit. Die LL ist ein ‚Handlungsraum‘, wie Purschke (2018) schreibt, in dessen Erforschung die Frage „Wer teilt wem was mit – und wer rezipiert es –, zu welchen Zwecken, aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln?“ ebenso zentral ist wie im Spezialforschungsbereich DiÖ insgesamt.9 Zu Erforschung dessen, wer wem was mit Englisch in der Wiener LL mitteilt, dazu hat nun ELLViA einen hoffentlich erhellenden Beitrag geliefert.
Fußnoten:
1 So definiert z.B. Gorter (2013: 191) das Forschungsthema als “The use of language in its written form in the public space”.
2 Deutsch Duden 10 – das Bedeutungswörterbuch, verfügbar in der Datenbank der Langenscheidt Online-Wörterbücher über die Universitätsbibliothek Wien (12.05.2022).
3 Siehe z.B. https://www.schrauben-lexikon.de/download/pdf/450-Kennzeichnung-Edelstahl.pdf (11.05.2022)
4 Siehe Backhaus (2007: 66): „Any piece of written text within a spatially definable frame“.
5 Wer genau wissen will, wie ich meine Bezirke und Straßen ausgewählt habe, findet die Information in Soukup (2020).
6 Siehe Backhaus (2007), Soukup (2016). Andere LL-Forscher*innen beschäftigen sich tatsächlich eher mit solchen ‚vergänglichen‘ Dingen – siehe z.B. Peck & Stroud (2015) zu ‚Skinscapes‘ (Tätowierungen als LL-Texte) und Caldwell (2017) zu bedruckten T-Shirts.
7 Siehe Ziegler et al. (2018); Bagna & Barni (2006: 21, zitiert in Backhaus 2007: 42); Backhaus (2007: 69-71).
8 Siehe Sedlmeier/Betsch (2002: 9), die wiederum Zajonc (1968: 18) zitieren, sowie Bornstein (1989).
9 Siehe z.B. die Leitfragen des Task Clusters B im SFB DiÖ - https://www.dioe.at/projekte/task-cluster-b-variation
Literaturverweise:
Backhaus, P. 2007. Linguistic landscapes: A comparative study of urban multilingualism in Tokyo. Clevedon: Multilingual Matters.
Bagna C. & M. Barni. 2006. Per una mappatura dei repertori linguistici urbani: nuovi strumenti e metodologie. In: N. De Blasi & C. Marcato, La città e le sue lingue. Repertori linguistici urbani, 1-43. Napoli: Liguori.
Bornstein, R. F. 1989. Exposure and affect: Overview and meta-analysis of research, 1968–1987. Psychological Bulletin 106: 265-89.
Caldwell, D. 2017. Printed t-shirts in the linguistic landscape. Linguistic Landscape 3 (2): 122-148.
Gorter, D. 2013. Linguistic landscapes in a multilingual world. Annual Review of Applied Linguistics 33. 190-212.
Peck, A. & C. Stroud. 2015. Skinscapes. Linguistic Landscape 1 (1/2): 133-151.
Purschke, C. 2018. Linguistic Landscapes – Sprachliche Landschaften. In I. Börner, W. Straub & C. Zolles (eds.), Germanistik digital: Digital Humanities in der Sprach- und Literaturwissenschaft, 153-167. Wien: Facultas.
Sedlmeier, P. & T. Betsch 2002. Frequency processing and cognition: Introduction and overview. In: P. Sedlmeier & T. Betsch (eds.), Etc.: Frequency processing and cognition, 1-18. Oxford: Oxford University Press.
Soukup, B. 2016. English in the Linguistic Landscape of Vienna, Austria (ELLViA): Outline, rationale, and methodology of a large-scale empirical project on language choice on public signs from the perspective of sign-readers. Views 25: 1-24.
Soukup, B. 2020. Survey area selection in Variationist Linguistic Landscape Study (VaLLS): A report from Vienna, Austria. Linguistic Landscape 6(1): 52-79.
Zajonc, R. B. 1968. Attitudinal effects of mere exposure. Journal of Personality and Social Psychology 9(2, Part 2): 1-28.
Ziegler, E., H. Eickmans, U. Schmitz, H.H. Uslucan, D. Gehne, H. David, S. Kurtenbach, T. Mühlan-Meyer & I. Wachendorff. 2018. Metropolenzeichen: Atlas zur visuellen Mehrsprachigkeit der Metropole Ruhr. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr.
In: DiÖ-Online.
URL: https://iam.dioe.at/blog/3159
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