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15. Juni 2022

Das „Wienerische“ und das „Slawische“ – eine identitätspolitische Liebesgeschichte

Es ist Anfang Juni 2022. Ich schreibe die letzten Seiten meiner Dissertation und erfreue mich an der Tiefe meiner Ergebnisse. Gleichzeitig kommen Zweifel auf. Ich frage mich, wen interessieren wird, welche Wörterbücher des „Wienerischen“ sich von welchen ihrer Vorgängerwerke hinsichtlich der in ihnen verzeichneten slawischen Lehn- und Fremdwörter inspirieren ließen. Wer hat Interesse daran, wie diese Wörterbücher das „Wienerische“ definieren und welche Rolle sie in dieser Definition dem Sprachkontakt mit den slawischen Sprachen zuschreiben?

Was ich nur am Rande registriere, ist, dass Ende Mai ein Wiener Bezirksvorsteher partei- und verkehrspolitische Gegner:innen beschimpft hat. Die Tageszeitung derStandard und insbesondere ihr Kolumnist Hans Rauscher reagieren darauf mit bissigen Kommentaren und einem Quiz zu typisch Wienerischen Schimpfwörtern. In dieses Quiz findet neben dem Nebochant, dem Kerzlschlucker und dem Fetznbankert auch der Schwabo1 Eingang – und es findet Anklang und regt zu intensiven Diskussionen an: 1.399 Kommentare sind bis zum heutigen Tag (13. Juni 2022) im Online-Forum zu diesem Artikel abgegeben worden. Ein kontrovers diskutiertes Thema ist, ob Schwabo ein „urwiener“ bzw. „originär wienerisches“ Wort sei.

Auch darauf reagiert Hans Rauscher am 8. Juni 2022 mit einer weiteren Kolumne – und diese weckt mich endgültig aus meiner Dissertationstrance und führt zur folgenden Erkenntnis: Vielleicht interessieren die Ergebnisse meiner Dissertation doch auch andere!

Sprachbilder über die Zeit hinweg

Inhaltlich möchte ich gar nicht näher auf die Diskussion eingehen – mich interessiert vielmehr das Bild von Sprache, das in der Kolumne vermittelt wird. Diesem Bild möchte ich Bilder des „Wienerischen“ entgegenstellen, die ich im Rahmen meiner Dissertation in Wörterbüchern und anderen Werken zum „Wienerischen“ seit dem 18. Jahrhundert identifizieren konnte. In der sprachwissenschaftlichen Fachliteratur werden solche Bilder von Sprache, die allgemein geteilt werden, auch als „Sprachideologien“ bezeichnet. Da der Begriff „Ideologie“ jedoch in der Alltagssprache oft negative Bedeutung trägt, möchte ich hier lieber von „Bildern“ sprechen.

Den Namen einer bestimmten Einzelsprache (z. B. „Deutsch“) verstehe ich dabei erweitert auf alle Sprachformen, die als diese bestimmte Sprache bezeichnet werden können. „Wienerisch“ ist, so wie ich das Wort verwende, also ein Sammelbegriff für alle Sprachformen des Deutschen, die von irgendjemandem als typisch für Wien erachtet werden.

Geschichte – Gesellschaft – Sprache

Rauscher beginnt seine zweite Kolumne zu dem Thema mit der Feststellung, eine „Diskussion über wienerische Kraftausdrücke“ hätte zu einem „identitätspolitischem Streitfall“ geführt. Für ihn wollen diejenigen, die Schwabo nicht als „wienerisch“ akzeptieren, die „gesellschaftliche Realität nicht wahrhaben“. Schließlich verändert sich Sprache „auch und gerade durch Zuwanderung“. Belegt wird diese Behauptung mit den folgenden Schlusssätzen:

„Ein Großteil der Wiener Ausdrücke stammt aus dem Jiddischen. Oder aus dem Tschechischen. Die Vorfahren des Herrn Nevrivy2 sind wohl von daher gekommen. Halt nur 100 Jahre früher.“

Aus Rauschers Formulierungen geht hervor, dass für ihn die Gesellschaft nicht nur Einfluss auf die Sprache hat, sondern – noch stärker – Sprache sogar ein Spiegel einer Gesellschaft ist. Gleichzeitig konserviert Sprache für Rauscher auch die Geschichte einer Gesellschaft, im vorliegenden Fall die Migrationsgeschichte Wiens um 1900. Slawische Lehnwörter sind also Teil des geschichtlichen Erbes und damit auch Teil des „Wienerischen“. Dies lässt sich auch auf jüngere Lehnwörter wie etwa Schwabo ausweiten.

Dasselbe Bild dominiert die nach 1945 erschienenen Wörterbücher des „Wienerischen“, die ich für meine Dissertation analysiert habe. Herausgreifen möchte ich die beiden Werke, auf die auch Rauscher verweist, nämlich Peter Wehles „Sprechen Sie Wienerisch?“ (Erstauflage 1980) und Robert Sedlaczeks „Wörterbuch des Wienerischen“ (Erstauflage 2011). Für Ersteren ist die große Zahl von Lehnwörtern im „Wienerischen“ ein Indikator für dessen Weltoffenheit und „Schmelztiegelfähigkeit“ – also ein Hinweis auf positive (!) „Charaktereigenschaften“ der Stadt Wien. Letzterer bedauert das mit dem Verschwinden des „Wienerischen“ einhergehende Verschwinden dieser Lehnwörter und zeigt dadurch, wie eng das „Slawische“ aber auch das „Jiddische“ ans „Wienerische“ geknüpft sind und dessen Identität ausmachen.

Von der Widerstandskraft des „Wienerischen“

Dieses Bild des „Wienerischen“ kommt erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf. Vor 1945 zeichnen die Publikationen zum „Wienerischen“ ein ganz anderes. Positiv wird hervorgehoben, dass das „Wienerische“ – wie alle anderen bairischen und alemannischen Dialekte – besonders viele historische Merkmale erhalten hätte. Dabei schrecken Publizisten auch nicht davor zurück, Ähnlichkeiten mit dem Gotischen zu rekonstruieren. Als negativ hingegen wird die Offenheit des „Wienerischen“ allem „Fremden“ gegenüber gesehen – wobei das „Slawische“ oder „Jiddische“ wohlgemerkt bis 1945 nur eine untergeordnete Rolle spielt. In diesem Spannungsfeld zwischen besonderer Bewahrung älterer Sprachstände und zu großer Offenheit kann nicht mehr entschieden werden, ob das „Wienerische“ nun eine wertvolle Sprachform ist, die mit Stolz verwendet und/oder dokumentiert werden kann, oder nicht.

Das Dilemma wird durch die Erzählung von einer besonderen „Widerstandskraft“ des „Wienerischen“ gelöst. So heißt es etwa in Max Mayrs „Das Wienerische“ aus dem Jahr 1924 auf Seite 18:

„Und diese Anhänglichkeit, diese unerschütterliche Treue, dieses strenge Bewahren von uralten Überlieferungen zeigt sich bei den Bewohnern einer Großstadt, die von allen Seiten den fremdesten, widerstrebendsten Einflüssen ausgesetzt war und deren wechselvolle Schicksale es vollkommen begreiflich erscheinen ließen, wenn ihre Sprache den ärgsten Entstellungen ausgeliefert worden wäre!“

Bei Mayr sind es die Sprecher:innen des „Wienerischen“, von denen diese Widerstandskraft ausgeht. Bei eindeutig völkisch-deutschnationalen und nationalsozialistischen Autoren wie etwa Hanns Saßmann („Wienerisch“ [Was nicht im Wörterbuch steht 5], 1935) ist es die besondere „deutsche“ Kraft des „Wienerischen“, also der Sprache selbst, die sich gegen den fremden Einfluss widersetzen kann, in Walter Steinhausers „Slawisches im Wienerischen“ (1978) ist es der „Boden“, von dem diese Kraft ausgeht.

Letzterer war Teil der Wiener dialektologischen Schule, die – wie weite Teile der Germanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – völkisch-deutschnational und nationalsozialistisch geprägt war. Innerhalb dieser Gruppe wurde das Bild der besonderen „Widerstandskraft“ des „Wienerischen“ bis ins 21. Jahrhundert vermittelt. Noch in Maria Hornungs „Wörterbuch der Wiener Mundart“ (erste Auflage 1998, überarbeitete Neuauflage 2002) heißt es, „die Wiener Stadtmundart [hätte] durch die Assimilierung von einigen hunderttausend Tschechen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts keine wesentliche Beeinträchtigung erfahren“.

Ein glückliches Ende?

In diesen Erzählungen schwingt mit, dass das „Fremde“, später auch das „Slawische“ eine Bedrohung für das „Wienerische“, für dessen „Reinheit“ und damit auch Wert ist bzw. war. Das jüngere Bild, in dem das „Slawische“ und das „Jiddische“ ein schützenswerter, integraler Bestandteil des „Wienerischen“ ist, wirkt im Vergleich dazu wie das glückliche Ende des Märchens „Die Schöne und das Biest“ – das „Slawische“ verliert in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Bedrohlichkeit. Stattdessen wird es zur Erinnerung an die besondere – nicht deutsche, sondern (habsburgisch‑)österreichische! – Identität des „Wienerischen“. Es ist also tatsächlich, wie Hans Rauscher bemerkt hat, eigentlich eine „identitätspolitische“ und nicht im engeren Sinn eine sprachgeschichtliche Diskussion.

Ein glückliches Ende also? Für das „Wienerische“ schon, denn es kann als (auch historisch!) multikulturell und weltoffen dargestellt werden. Für die tatsächlichen Sprecher:innen der anderen Sprachen (der slawischen Sprachen etwa) ist das Ende nicht unbedingt ein glückliches, denn um ihre Sprachen, ihre Mehrsprachigkeit und deren Rolle in unserer Gesellschaft geht es eigentlich gar nicht, wenn das „Slawische im Wienerischen“ angesprochen wird.

Fußnoten

1 Schwabo bedeutet ‚Österreicher‘ oder auch allgemeiner ‚deutschsprachige Person‘. Es ist eigentlich eine Rückentlehnung aus dem BKMS, da es von dem deutschen Wort Schwabe ‚Bewohner des Schwabenlandes‘ kommt. Im gesamten ehemaligen Königreich Ungarn (Ungarn, Rumänien, Kroatien, Serbien) werden die dortigen Deutschsprachigen als (Donau-)Schwaben bezeichnet, wenngleich diese deutschsprachige Minderheit nur zu einem geringen Teil aus dem Schwabenland stammt.

2 Bei Ernst Nevrivy handelt es sich um eben jenen Bezirksvorsteher, auf dessen Beschimpfungen Rauscher in seinem ersten Kommentar reagiert. Nevřivý ist ein sehr seltener Familienname, der in der Tschechischen Republik derzeit vor allem in Mähren (rund um Brno, deutsch Brünn) vorkommt. Es ist die Verneinung des veralteten Adjektivs vřivý, das ‚kochend‘ bedeutet.


Zitation
Kim, Agnes (2021): Das „Wienerische“ und das „Slawische“ – eine identitätspolitische Liebesgeschichte.
In: DiÖ-Online.
URL: https://iam.dioe.at/blog/3161
[Zugriff: 29.03.2024]