Sprachen sind standardisiert, Dialekte nicht. Richtig?
beantwortet von: Philipp Stöckle
Worum geht es bei der (Forschungs-)Frage?
Heute Morgen hörte ich zufällig im Radio eine Sendung, bei der die Moderatorin den Zuhörer*innen die Frage stellte, wie man das Wort für ‘Tischfußball spielen’ – ausgesprochen /vuːtsl̩n/ – korrekt schreibe (also etwa mit <z> wuzeln, mit <zz> wuzzeln oder mit <tz> wutzeln). Hinter dieser Frage verbirgt sich offenbar die Annahme, dass es keine einheitliche Schreibung für das Wort gebe, dass es also nicht „standardisiert“ sei. Wirft man allerdings einen Blick in verschiedene Wörterbücher wie den Duden, das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) oder die Ausgabe des Dudens „Wie sagt man in Österreich?“, so stellt man fest, dass das Wort erstens überall vermerkt ist (allerdings mit den Zusätzen „umgangssprachlich“ und „österreichisch“) und zweitens einheitlich in der Schreibung wuzeln angeführt wird.
Lässt sich das Wort also eher dem Dialekt zuordnen, der Standardsprache oder einer Ebene dazwischen? Und gelten auch für Varietäten (so nennt man die verschiedenen Erscheinungsformen einer Gesamtsprache) abseits der Standardsprache einheitliche und sogar verbindliche Normen?
Worin unterscheiden sich überhaupt „Dialekt“ und „Sprache“?
Die Frage nach der Unterscheidung zwischen „Dialekt“ und „Sprache“ lässt sich linguistisch nicht eindeutig beantworten. Häufig geht man davon aus, dass verschiedene Dialekte Teil einer Sprache seien, sich daher strukturell und lexikalisch ähneln und aus diesem Grund auch gegenseitig verständlich seien. Dass es mit der Verständigung aber nicht immer ganz so einfach ist, diese Erfahrung haben viele von uns vielleicht schon einmal bei einem Besuch in der Schweiz gemacht, wo ja ebenso wie in Österreich und Deutschland Deutsch gesprochen wird (außer, man kommt aus Vorarlberg, wo die Dialekte dem Schweizerdeutschen sehr ähnlich sind).
Auf der anderen Seite gibt es Sprachen wie Spanisch und Portugiesisch, Dänisch, Schwedisch und Norwegisch oder Serbisch und Kroatisch, die sich so sehr ähneln, dass die verschiedenen Sprecher*innen jeweils ihre eigene Sprache sprechen und sich trotzdem gegenseitig gut verstehen können. Ähnlichkeit und daraus resultierende Verständlichkeit sind also kein ausreichendes Kriterium, um Sprachen von Dialekten zu unterscheiden.
Ein häufig angeführtes Zitat, das mit dem Linguisten Max Weinreich in Zusammenhang gebracht wird (auch wenn es ursprünglich nicht von ihm stammt), besagt:
„Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine.“ (vgl. Hitchins 2011: 20)
Auch wenn nicht jedes Land eine eigene Marine besitzt und sich Sprachen wie das Deutsche auf mehrere Länder verteilen, wird jedoch eine Sache deutlich: Ob etwas als „Sprache“ oder „Dialekt“ klassifiziert wird, hat häufig gar nicht primär linguistische Gründe, sondern hängt von politischen Faktoren ab.
Für das Deutsche lässt sich anhand des sog. „kontinentalwestgermanische Kontinuum“ sehr schön zeigen, wie vertrackt es sich mit der Unterscheidung von Dialekt und Sprache verhält. Auf der Karte sehen wir eine Gliederung der traditionellen deutschen Dialekte1, die sich in Nieder- (rot-orange Färbung), Mittel- (grüne Färbung) und Oberdeutsch (blaue Färbung) unterteilt und zusätzlich noch das Friesische umfasst. Bemerkenswert ist dabei jedoch, dass gar nicht in allen abgebildeten Regionen „Deutsch“ gesprochen wird, sondern in den Niederlanden und Belgien „Niederländisch“ (was wiederum auf dem Niederfränkischen basiert). Auch „Luxemburgisch“ ist eine eigene Sprache und neben Deutsch und Französisch dritte Amtssprache in Luxemburg – und das, obwohl es eigentlich strukturell und historisch als westmitteldeutsche Varietät klassifiziert wird.
Vielleicht müssen es ja nicht immer militärische Faktoren wie Militär oder Marine sein, die eine Sprache als solche klassifizieren. Was aber anhand der Beispiele deutlich wird, ist die Tatsache, dass es für alle besprochenen „Sprachen“ Kodifizierungen und Lehrwerke gibt, sie als Unterrichtssprachen in den Schulen fungieren und in den Medien präsent sind. Strenggenommen beziehen sich diese Kodifizierungen jedoch auf die Standardvarietäten, die – genauso wie die Dialekte, Umgangssprachen etc. – Teil der jeweiligen Gesamtsprachen sind. So zählt beispielsweise das Schrift-, Hoch- oder Standarddeutsche ebenso zum Deutschen wie das Alemannische, Bairische oder Obersächsische.
Wenn wir uns bei unserer Betrachtung auf die Standardvarietäten beziehen, können wir an dieser Stelle also vorläufig die oben gestellte Frage mit „ja“ beantworten, d.h. (Standard-)Sprachen sind per definitionem standardisiert, während dies für Dialekte nicht unbedingt gilt. Aber verhält es sich damit wirklich so einfach?
Von „großen“ und „kleinen“ Sprachen
Abgesehen vom Luxemburgischen handelt es sich bei den soeben diskutierten Beispielen um Sprachen mit einer Vielzahl von Sprecher*innen, die zudem häufig in mehreren Ländern gesprochen werden. Tatsächlich gibt es aber weltweit etwa 7.000 Sprachen (vgl. Ethnologue 2022), was bei einer Gesamtbevölkerung von knapp acht Milliarden Menschen im Mittel etwas mehr als eine Millionen Sprecher pro Sprache ausmacht. Allerdings hat die Hälfte aller Sprachen weniger als 7000 Sprecher*innen (vgl. Wunderlich 2015: 34), die Verteilung ist also sehr ungleich. Allein die vier größten Sprachen der Welt – Mandarin, Spanisch, Englisch und Hindi – werden von über zwei Milliarden Menschen als Muttersprache gesprochen, während gleichzeitig über 40% aller Sprachen vom Aussterben bedroht sind (vgl. Ethnologue 2022). „Viele Sprachen sind sehr gut bekannt, von vielen anderen Sprachen weiß man nur sehr wenig.“ (Wunderlich 2015: 12) Für einen Großteil der Sprachen wird es daher sicherlich weder Regelwerke und Lehrbücher noch ein zugehöriges politisches Gebilde geben, dass den Geltungsraum der Sprache definiert.
„standardisiert“ vs. „regelhaft“
Kommen wir noch einmal zu den großen, bekannten Sprachen wie „Deutsch“, „Englisch“ oder „Spanisch“ zurück. Für diese gilt sicherlich, dass sie (bzw. ihre Standardvarietäten) standardisiert sind – allerdings kommt gerade bei diesen Beispielen verkomplizierend hinzu, dass es sich um plurizentrische Sprachen handelt, bei denen die Normen von Land zu Land variieren können (aber dieses Thema verdient einen eigenen Beitrag). Offizielle und für den Schulunterricht verbindliche Lehrwerke wird man für Dialekte in der Regel nicht finden. Dies soll aber keinesfalls bedeuten, dass Dialekte nicht regelhaft sind und keinen grammatischen Gesetzen gehorchen. Für viele Dialekte gibt es sehr genaue Beschreibungen der Grammatik, des Wortschatzes oder der Aussprache, d.h. sie folgen ebenso wie die Standardsprachen Regeln und orientieren sich an Konventionen der Sprachgemeinschaft.
Um zum Abschluss wieder auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen: Sind Sprachen standardisiert und Dialekte nicht? Wie wir gesehen haben, lässt sich diese Frage leider nicht eindeutig beantworten und hängt stark davon ab, was man unter einer „Sprache“ bzw. einem „Dialekt“ versteht. Für unser an den „großen“ europäischen und asiatischen Sprachen orientiertes Verständnis mag diese Feststellung vielleicht stimmen, zumindest, wenn man sich auf die Standardvarietäten bezieht. Blickt man aber darüber hinaus auf die große Vielfalt an Sprachen, die auf der Welt zu finden sind, lässt sich eine solche Einteilung nur schwer aufrechterhalten.
Fußnoten
1 Die Darstellung auf der Karte beschränkt sich dabei auf diejenigen Gebiete, wo die Dialekte bzw. Sprachen heutzutage noch gesprochen werden. Insbesondere östlichere Regionen wie Böhmen und Mähren (im heutigen Tschechien) oder Schlesien (im heutigen Polen), in denen praktisch kein Deutsch mehr gesprochen wird, sind daher nicht inkludiert.
Quellen
Ethnologue (2022) = Ethnologue. Languages of the World. https://www.ethnologue.com/ (Zugriff: 25.05.2022).
Hitchins, Henry (2011): The Language Wars. A History of Proper English. New York: Farrar, Straus and Giroux.
König, Werner & Hans-Joachim Paul (2001): dtv-Atlas deutsche Sprache. 13. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag.
Wunderlich, Dieter (2015): Sprachen der Welt. Warum sie so verschieden sind und sich doch alle gleichen. Darmstadt: Lambert Schneider.
Beantwortet hat diese Frage:
Dr. Philipp Stöckle
Philipp Stöckle ist assoziiertes Mitglied beim SFB "Deutsch in Österreich" und seit November 2016 redaktioneller Leiter des „Wörterbuchs der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ)“, das an der Abteilung „Sprachwissenschaft“ des Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage (ACDH-CH) an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) angesiedelt ist.