Warum heißt es „das Mädchen“ und nicht „die Mädchen“?

beantwortet von: Katharina Korecky-Kröll

Wie bist du zur (Forschungs)frage gekommen?

Ich interessiere mich besonders für die Grammatik verschiedener Wortarten, und da ist das grammatische Geschlecht (oder Genus) von Substantiven ein besonders spannendes Phänomen. Diese konkrete Frage wurde uns am BeOpen – Science & Society Festival gestellt.

Von Leuten, die Deutsch als Fremdsprache lernen, hört man häufig die Klage, dass es sehr schwierig ist, sich den richtigen Artikel der, die oder das zu dem jeweiligen Substantiv zu merken, weil es keine eindeutigen Regeln dazu gibt. Und ein besonders unlogisches Beispiel scheint Mädchen zu sein: Ein Mädchen ist ja wirklich ein typisch weibliches Wesen – warum hat es dann nicht so wie die Frau oder die Mutter auch ein tatsächlich feminines Genus?

Wie bist du zu den nötigen Informationen gekommen, um die Frage beantworten zu können?

Um die Forschungsfrage Warum es „das Mädchen“ und nicht „die Mädchen“ heißt zu beantworten, habe ich u.a. im DWDS-Korpus („Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute“) nachgesehen.

Welche Methode hast du gewählt? Wie bist du an die Frage rangegangen?

Neben der Recherche im DWDS-Korpus sowie in verschiedenen Fachbüchern der germanistischen Sprachwissenschaft habe ich mir auch Belege von österreichischen Kindern und Erwachsenen sowie aus sonstigen deutschen Internetkorpora (sprachwissenschaftlichen Datenbanken) angesehen.

Warum heißt es also „das Mädchen“ und nicht „die Mädchen“?

Mädchen ist ein Diminutiv (d.h. eine Verkleinerungs- oder Verniedlichungsform) der Basis Magd bzw. Maid (mit der Bedeutung „Jungfrau“, „Dienerin“, aber auch „Landarbeiterin“). Allerdings ist diese Basis heute nicht mehr klar ersichtlich (im Gegensatz zu Tisch – Tischchen), d.h. häufig spricht man hier von lexikalisierten oder opaken Diminutiven. Kaninchen wäre allerdings ein Beispiel für eine noch stärker lexikalisierte Diminutivform, von der man im heutigen Deutsch überhaupt keine Basis mehr findet.

Es ist wichtig, bei dieser Forschungsfrage zwischen dem natürlichen Geschlecht (männlich, weiblich bzw. weiteren natürlichen Geschlechtern) und dem grammatischen Geschlecht oder Genus (maskulin, feminin, neutral) zu unterscheiden. In vielen Fällen stimmen das natürliche und das grammatische Geschlecht von Personenbezeichnungen überein, wie die folgenden Beispiele zeigen: der Mann, der Vater, der Onkel oder die Frau, die Mutter, die Tante.

Mädchen ist allerdings eine der wenigen Personenbezeichnungen, bei denen das natürliche Geschlecht nicht mit dem grammatischen Genus übereinstimmt, was ziemlich auffällig ist. In diesen Fällen „gewinnt“ im Deutschen normalerweise das grammatische Genus.

Diminutive (Verkleinerungsformen) von Substantiven haben im Standarddeutschen immer neutrales Genus: So heißt es ja auch der Tisch, aber das Tischchen, oder die Katze, aber das Kätzchen. Ausnahmen sind -i-Diminutive von Eigennamen wie der Hansi oder die Anni, die ihr natürliches Geschlecht behalten (in manchen Dialekten ist das allerdings anders). Mädchen ist aber formal gesehen eine ganz normale Diminutivform eines Substantivs, auch wenn die zugrundeliegende Basis (Magd/Maid) nicht mehr eindeutig ersichtlich ist. Im allgemeinen Sprachgebrauch hat Mädchen (oder in der Umgangssprache auch Mädel) allerdings bereits die Funktion der Basis übernommen und dient als unmarkierte Form (Grundform). So kann man z.B. in Ostösterreich von einem Mäderl sprechen, wenn man betonen möchte, dass es sich um ein besonders kleines Mädchen handelt (in diesem Fall wäre hier Mäderl eigentlich eine Diminutivform von Mädchen oder Mädel).

Der „Sieg“ des grammatischen Genus über das natürliche Geschlecht findet allerdings nicht gleichermaßen auf allen Ebenen statt:

Beim Artikel, der ja meistens sehr nahe beim Substantiv steht, gewinnt in den meisten Fällen ganz klar das grammatische Genus mit dem Artikel das – es heißt also das Mädchen. Auch wenn man bei kleinen Kindern im Erstspracherwerb oder bei älteren Kindern und Erwachsenen im Zweitspracherwerb auch vereinzelte Beispiele für die Mädchen findet, so gelten diese trotzdem als Fehler und werden sich somit nicht schnell im allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzen:

„Jetzt kommt die Mädchen Barbapapa!“ (Kindergartenkind mit Deutsch als Zweitsprache aus dem INPUT-Korpus)

Im Gegensatz dazu wird in längeren Texten, oder manchmal sogar innerhalb desselben Satzes, häufig auf das Mädchen mit dem Personalpronomen sie referiert und nicht mit es, wie die folgenden Beispiele aus schriftlichen und mündlichen Korpora – also Sammlungen von Texten und Äußerungen – zeigen:

„bis der Mann aus der Menschentraube tritt, sich umschaut, das Mädchen entdeckt, ihr nachrennt, sie stellt.“ (Deutsches Referenzkorpus De-Re-Ko-2020-I)

„als sie links und rechts von dem Mädchen anlangen und mit ihr in Gleichschritt fallen, lächelt er dünn.“ (Deutsches Referenzkorpus De-Re-Ko-2020-I)

In diesen Fällen „gewinnt“ dann das natürliche Geschlecht, weil es für die meisten Menschen intuitiver ist, sich auf eine weibliche Person mit dem femininen Personalpronomen sie zu beziehen als mit dem neutralen Personalpronomen es, das man eher mit Dingen assoziiert.

Ja, es heißt also beispielsweise: Das Mädchen ist intelligent. Aber es heißt eben auch oft im darauffolgenden Satz: Sie weiß auch schon genau, was sie studieren möchte.

Beantwortet hat diese Frage:

Mag. Dr. Katharina Korecky-Kröll

Sie ist seit September 2016 Teil des SFB-Teams und als Postdoc zuständig für die Koordination der Datenerhebung von PP03 (Sprachrepertoires und Varietätenspektren). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Psycholinguistik, Variationslinguistik, Morphologie, Morphosyntax und Pragmatik. Sie ist außerdem wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien.