Welche Wörter übernimmt das Deutsche aus Migrationssprachen?
beantwortet von: Agnes Kim
Wie bist du zu dieser Frage gekommen?
Neben vielen anderen Fragen hat die Lange Nacht der Forschung auch jene nach dem Einfluss von sogenannten Migrationssprachen auf das Deutsche aufgebracht. In diesem Fall widme ich mich explizit dem Wortschatz, wenn ich die Frage nach aus diesen Migrationssprachen übernommenen Wörtern zu beantworten versuche.
Warum versuchen? So viel gleich vorweg: Die Beantwortung von Fragen zu sprachlichen Entwicklungen in der Gegenwart – und dass es sich um die Gegenwart handeln soll, sagt die Zeitform (das Tempus) des Zeitworts (Verbs) "übernehmen", das in der Gegenwart (Präsens) steht – ist vielschichtiger, als man vielleicht denken mag. Weshalb? Das kann dieser Beitrag zeigen. Die Formulierung der Frage stellt gleich einige weitere Fragen, nämlich:
- Was bedeutet „übernehmen“?
- Was genau ist „das Deutsche“?
- Was ist eigentlich eine „Migrationssprache“?
Durch eine Beantwortung dieser Fragen können wir uns der eigentlichen Frage annähern. Also:
Was bedeutet „übernehmen“?
Lexikalische Übernahmen (also die Übernahme von Wörtern; auch: Entlehnung) von einer (Geber-)Sprache (z.B. einer Migrationssprache) in eine (Nehmer-)Sprache (z.B. Deutsch) können auf verschiedenen Ebenen beschrieben werden. Handelt es sich um Wörter, die nur in einzelnen Äußerungen zu finden sind? Oder treten sie häufiger auf und stabilisieren sich gewissermaßen, sodass sie Eingang in ein Wörterbuch der (Nehmer‑)Sprache finden können – und sei es nur in ein spezielles, das z. B. die Jugendsprache oder einen bestimmten Dialekt abbildet und nicht die Standardsprache. Ich interpretiere hier die Frage im zweiten Sinn und konzentriere mich also auf Fremd- und Lehnwörter. Sogenannte Ad-hoc-Entlehnungen lasse ich außer Acht.
Ein Fremdwort ist ein Wort aus einer anderen Sprache, das von den Sprecherinnen und Sprechern der (Nehmer-)Sprache als „fremd“ erkannt wird. Dem gegenüber werden Lehnwörter nicht mehr sofort als solche erkannt. Gute Beispiele sind zwei bereits im 19. Jahrhundert aus dem Englischen ins Deutsche entlehnte Wörter: Die englische Herkunft des Rumpsteaks ist allgemein bekannt. Dass auch fesch aus dem englischen fashionable ‚modisch‘ entlehnt wurde, ist jedoch nicht sofort erkennbar. Ad-hoc-Entlehnungen sind – wie der Name schon sagt – spontane, einmalige Integrationen von Wörtern aus einer anderen Sprache in sonst einsprachig Äußerungen.
Was genau ist „das Deutsche“?
Diese Frage scheint auf den ersten Blick leicht beantwortbar zu sein. Dennoch ist sie eine grundlegende für jede sprachwissenschaftliche Untersuchung. Ist „Deutsch“ für mich nur eine bestimmte Form des Sprechens oder Schreibens? Muss dieses mit einer bestimmten Norm übereinstimmen? Definiere ich es über einen bestimmten geographischen Raum? Oder ist alles „deutsch“, das von den Produzentinnen und Produzenten der untersuchten Äußerungen so bezeichnet wird?
Eine „richtige“ Antwort kann es nicht geben, da alle Ansätze ihre Berechtigung haben. Für diesen Text beschränke ich mich aber auf das Deutsche in Österreich und damit auf alle Sprechlagen des Deutschen, die in Österreich typischerweise Verwendung finden – und diese schließen die österreichische Standardsprache genauso mit ein wie sich in Wien herausbildende (Multi-)Ethnolekte.
Ethnolekte sind Sprechlagen einer Sprache (z. B. des Deutschen im österreichischen Kontext), die typischerweise von Personen gesprochen werden, die (auch) eine andere Sprache als Erstsprache (oder: Muttersprache) haben (z. B. Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch, Serbisch [= BKMS]). Oft werden sie diesen mehrsprachigen Gruppen aber auch nur zugeschrieben, d. h. von der einsprachigen Mehrheit als typisch für die mehrsprachige Minderheit erachtet. Der Begriff des Multiethnolekts wird der Tatsache gerecht, dass solche Sprechlagen oft nicht spezifisch für eine bestimmte Minderheit sind, sondern sich unter den Sprecherinnen und Sprechern verschiedener Erstsprachen (z. B. BKMS und Türkisch) herausbilden.
Was ist eigentlich eine „Migrationssprache“?
Als Migrationssprachen werden die Herkunftssprachen von sogenannten allochthonen Minderheiten bezeichnet. Diese Sprachen sind also vor allem im Rahmen von Migrationsbewegungen in der jüngeren Vergangenheit in ein bestimmtes, anderssprachiges Gebiet gekommen.
Im Gegensatz dazu werden die Sprachen von autochthonen Minderheiten als „Minderheitensprachen“ bezeichnet. Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz gesteht ihnen besondere Rechte und staatliche Förderung zu, auf die die Sprecherinnen und Sprecher von Migrationssprachen nicht in derselben Form Anspruch haben (siehe auch diesen Blogbeitrag). Anerkannte Minderheitensprachen sind in Österreich Slowenisch, Ungarisch, (Burgenland-)Kroatisch, Romanes, Tschechisch, Slowakisch sowie die österreichische Gebärdensprache.
Doch was sind nun Migrationssprachen in Österreich? Seit der letzten Volkszählung 2001 liegen keine flächendeckenden oder auch nur repräsentativen Erhebungen zu Sprache(n) in Österreich vor. Daher müssen – in Ermangelung geeigneter Informationen – die Daten zur Staatsangehörigkeit der österreichischen Wohnbevölkerung als Hilfskonstruktion herangezogen werden, wohl wissend, dass nicht alle Menschen, die aus einem Staat kommen dieselbe Sprache sprechen.
Laut Statistik Austriai lebten zu Jahresbeginn 2020 1.487.020 Personen mit nicht-österreichischer Staatsangehörigkeit in Österreich. Mindestens 2,5 % dieser Personen (also mindestens 37.175 Personen) kamen jeweils aus den Staaten, die in der folgenden Tabelle verzeichnet sind. In der dritten Spalte kann abgelesen werden, um wie viel Prozent die jeweilige Bevölkerungsgruppe seit 2002 gewachsen (oder geschrumpft) ist. Die letzte Spalte nennt Sprachen, die in den jeweiligen Sprachen (unter anderem) gesprochen werden.
Hervorgehoben sind in dieser Tabelle vier Staaten (bzw. Staatengruppen): Die Anzahl der Personen aus den „Gastarbeiterländern“ der 1960er- und 1970er-Jahre, also aus Ex-Jugoslawien und der Türkei, ist zwischen 2002 und 2020 vergleichsweise konstant geblieben. Daraus kann gefolgert werden, dass BKMS sowie Türkisch, Kurdisch (und andere Minderheitensprachen der Türkei) bereits länger in intensivem Kontakt mit dem Deutschen sind. Sprecherinnen und Sprecher des Arabischen bzw. Pashto und Dari sind vermehrt in den letzten Jahren nach Österreich gekommen.ii
Auf Grund dieses Befunds kann also davon ausgegangen werden, dass Wörter migrationsbedingt – sofern dies trennscharf von anderen Motivationen wie z. B. Kulturkontakt unterschieden werden kann – vor allem aus dem BKMS und dem Türkischen in Österreich ins Deutsche übernommen wurden. Nun sind wir endlich so weit, dass wir die eigentliche Frage beantworten können. Also:
Fremd- und Lehnwörter kommen natürlich nicht nur migrationsbedingt in eine Sprache. Gerade für die Entlehnung von Wörtern ist es im Vergleich zu anderen sprachlichen Elementen wie etwa grammatischen Strukturen nicht notwendig, dass die beiden beteiligten Sprachen in demselben geographischen oder sozialen Raum gesprochen werden. Man denke etwa an das Englische: Es wird in keinem der oben genannten Staaten als Amtssprache verwendet und hat auch wohl keine Relevanz als Erstsprache für die aus diesen Staaten nach Österreich migrierten Personen. Dennoch stammt der überwiegende Teil der neuen Fremd- und Lehnwörter aus dem Englischen. Das Neologismenwörterbuch des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim verzeichnet 647 in den letzten 30 Jahren neu aus dem Englischen ins Deutsche entlehnte Wörter, aber nur 40 aus anderen Sprachen! Das Englische ist aber aus kulturellen und wirtschaftlichen Gründen weltweit von zentraler Bedeutung, weshalb viele Bezeichnungen für neue Dinge oder Konzepte, etwa aus dem Bereich Informationstechnologie, direkt aus dem Englischen übernommen werden. Kulturkontakt ist für Entlehnungen von Wörtern ein noch wichtigerer Faktor als Migration!
Welche Wörter übernimmt das Deutsche aus Migrationssprachen?
In die deutsche Standardsprache wurden in den letzten Jahrzehnten nur ganz wenige neue Wörter aus den oben genannten, für Österreich relevanten „Migrationssprachen“ entlehnt. Im Neologismenwörterbuch finden sich nur zwei Wörter aus dem Arabischen: Hidschab ‚Kopfbedeckung, Umhang‘ aus arab. ḥiğāb sowie Nikab ‚Schleier‘ aus arab. Niqāb, die seit der Mitte der Nullerjahre (2000–2009) gebraucht werden. Damit werden seit Mitte der 1970er-Jahre gebräuchliche – und auch in der Standardsprache verwendete – Bezeichnungen für mit den türkischen Gastarbeiterinnen und -arbeitern nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz gekommene Bezeichnungen für orientalische Speisen nicht abgedecktiii: Döner aus türk. döner ‚sich drehend‘, Kebab aus türk. kebap, das wiederum aus arab. kabāb ‚Grillfleisch‘ stammt (auch zusammen als Döner Kebab), Falafel aus arab. falāfil oder Köfte aus türk. köfte (> pers. kofteh ‚Kloß‘).
Gerade bei Bezeichnungen kann man gut erkennen, dass nicht immer deutlich zwischen migrationsbedingtem und Kulturkontakt unterschieden werden kann. Natürlich haben gerade die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter Kebab, so wie wir es in Zentraleuropa kennen, mitgebracht und dann in der Migration weiterentwickelt. Aber auch Reisen und Interesse an anderen (Essens-)Kulturen vermitteln diese Wörter ins Deutsche und unterstützen ihre Verbreitung. Das ist auch den Sprecherinnen und Sprechern bewusst. PP08 hat in seinen Erhebungen etwa unsere Gewährspersonen gefragt, ob sich die deutsche Sprache in Österreich durch den Kontakt mit anderen Sprachen verändert. Eine Gewährsperson aus dem Burgenland antwortete darauf: „jetzt kennst schon einen Kebab […], kennst ja jetzt schon den Döner, du weißt was das ist […] und durch das Reisen ja auch.“
Ganz andere Wörter kommen jedoch migrationsbedingt in nicht-standardsprachliche, gesprochene Sprechlagen des Deutschen, z. B. in die schon oben genannten (Multi‑)Ethnolekte. Dazu zählen meist Anredeformen, Beschimpfungen, Personenbezeichnungen und die sogenannten Interjektionen und Diskursmarker. Letzteres sind „kleine“ Wörter, die die gesprochene Sprache strukturieren, wie z. B. also in einem Satz wie „Also, was sollen wir nochmal machen?“ oder das viel zitierte oida der Jugendsprache. Für Deutschland und die Schweiz gibt es mehr Untersuchungen als für Österreich. Belegt sind aber die folgenden Wörter aus dem BKMS in Ethnolekten, die in Wien von mehrsprachigen Jugendlichen gesprochen werden. Das Türkische spielt im Vergleich zu Deutschland in Österreich scheinbar eine geringere Rolle.iv
- bre ‚informelle Anrede für Männer‘ (Anredeform, Interjektion) aus dem BKMS, die in den meisten Balkansprachen verbreitet ist und ursprünglich von der griechischen Anredeform moré (μορέ) ‚Leute!‘ kommt
- ajde ‚komm!‘ (Interjektion, Diskursmarker) aus dem BKMS
- o bože! ‚oh Gott!‘ (Interjektion) aus dem BKMS
- kurac ‚Schwanz‘ (Beschimpfung) aus dem BKMS
- Schwabo ‚Deutscher‘ (Personenbezeichnung) aus dem BKMS, eigentlich aus dem deutschen Schwabe – interessanterweise ist dies in einem Gespräch von türkisch-deutsch zweisprachigen Jugendlichen belegt!
Was habe ich daraus gelernt?
Das Beispiel dieser Frage macht sehr gut deutlich, wie schwierig es ist, aktuellen Sprachwandel und Sprachkontakt zu untersuchen. Werden diese Wörter in zehn Jahren noch verwendet werden? Wenn ja, von wem? Werden es nur zweisprachige Personen sein oder auch solche mit Deutsch als Erstsprache? Andererseits braucht man auch eine gute Forschungsgrundlage, nämlich viele Aufnahmen von zweisprachigen Personen in unterschiedlichen Kommunikationssituationen, um sich ein genaueres Bild machen zu können. Diese Forschungslücke möchte PP04 in Kooperation mit PP06 des SFB „Deutsch in Österreich“ in den nächsten Jahren schließen. Dann wird sich die Forschungsfrage zwar nicht abschließend, aber sicher umfangreicher beantworten lassen!
Fußnoten
i Achtung: Zum Zeitpunkt der hier präsentierten Auswertung lagen für den 1. 1. 2020 nur vorläufige Ergebnisse vor. Der in der folgenden Tabelle als "Serbien" bezeichnete Staat umfasste bis 2006 auch Montenegro, bis 2008 auch den Kosovo.
ii Rumänisch, Ungarisch, Polnisch und Slowakisch weisen auf Grund der Habsburgermonarchie ebenfalls eine lange Kontaktgeschichte mit dem Deutschen in Österreich auf.
iii Ich verlinke bei den jeweiligen Wörtern das Wortprofil des DWDS. Darin ist eine Wortverlaufskurve abgebildet, die genau zeigt, seit wann diese Wörter in deutschen, standardsprachlichen Texten vorkommen.
iv Ich nenne hier nur diejenigen, die nicht als Ad-hoc-Entlehnungen eingestuft werden, sondern häufiger vorkommen. Die Belege stammen aus der Diplomarbeit Lambert (2013) für das BKMS. Für das Türkische wäre Prosenbauer (2012) vergleichbar – sie enthält aber keine Belege für Fremd- oder Lehnwörter.
Beantwortet hat diese Frage:
Mag.a Agnes Kim
Sie hat an der Universität Wien Slawistik mit Schwerpunkt Tschechisch und deutsche Philologie studiert und ist seit 2016 im Teilprojekt PP06 („Deutsch und slawische Sprachen in Österreich: Aspekte des Sprachkontakts“) angestellt. In seinem Rahmen beschäftigt sie sich vor allem historischem Sprachkontakt zwischen dem Deutschen und slawischen Sprachen in Wien und Ostösterreich.