Sprachen vermischen sich ständig. Wie lassen sich dennoch Sprachverwandtschaften feststellen?

beantwortet von: Fabian Fleißner

Wie bist du zur (Forschungs-)Frage gekommen?

Mit dieser Frage werden Sprachhistorikerinnen und Sprachhistoriker sehr häufig konfrontiert, so auch beim BeOpen-Festival, bei dem diese Frage eingereicht wurde. Schon aufgrund unseres tagtäglichen Sprachgebrauchs können wir schnell feststellen, dass viele Wörter, die wir verwenden, aus anderen Sprachen entlehnt wurden. Dieses Phänomen ist natürlich nicht neu, Sprachkontakt ist seit jeher eine natürliche Gegebenheit für fast alle Sprachen auf der Welt und dazu auch ein starker Motor für Sprachwandel selbst. Um die Verwandtschaftsverhältnisse einzelner Sprachen zueinander innerhalb dieses (vermeintlichen) Gewirrs sichtbar zu machen, braucht es also ausgefeilte Methoden, wie sie die vergleichende historische Sprachwissenschaft in den letzten 200 Jahren entwickelt hat.

Welche Methode hast du gewählt? - Die historisch-vergleichende Methode

Im Fokus der ersten sprachhistorischen Untersuchungen stand der sog. „Grundwortschatz“ der indogermanischen Sprachen. Der Grundwortschatz zeichnet sich durch die Besonderheit aus, dass er zwar innerhalb einer natürlichen Sprache nur einen sehr kleinen Teil des theoretisch möglichen Wortschatzes repräsentiert, dafür aber zwischen 85 % und 90 % aller sprachlichen Äußerungen abdeckt. – Die 10 häufigsten Wörter des geschriebenen Deutschen etwa nehmen allein bereits 25 % der ganzen Textmasse in Anspruch. Dazu gehören zum Beispiel die Artikel der/die/das, die Verben sein und haben, Pronomen wie ich und er oder Zahlwörter wie eins, zwei, drei. Die Wörter des Grundwortschatzes werden also hochfrequent verwendet, darüber hinaus sind sie sprachgeschichtlich gesehen auch sehr stabil. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie durch Lehnwörter ersetzt werden, ist gering. Über den Vergleich des Grundwortschatzes wird schnell ersichtlich, welche Sprachen besonders viele Ähnlichkeiten (und damit Verwandtschaftsverhältnisse) aufweisen und welche nicht. So erscheint das Zahlwort drei im altindischen Sanskrit als trí, im Lateinischen als tres, im Griechischen als treis und im Russischen als tri. Das ungarische három dagegen passt nicht in diese Reihe. Sammelt man genügend dieser Gleichungen, verdichten sich die Hinweise darauf, dass das Deutsche gemeinsam mit vielen anderen Sprachen wie dem Lateinischen, dem Hindi, dem Russischen, dem Persischen und dem Griechischen einer Sprachfamilie zuzuordnen ist. Diese nennen wir Indogermanisch. Das Ungarische dagegen gehört zur sog. finno-ugrischen Sprachfamilie. Entsprechende Gleichungen für das Ungarische funktionieren demnach mit seinen Verwandten Estnisch und Finnisch.

Gibt es Regeln, an denen klar erkennbar ist, dass es sich um eine Sprachverwandtschaft handelt?

Nun wissen wir also, dass sich manche Sprachen mehr ähneln als andere. Wenn wir dann die dennoch vorhandenen Unterschiede einzelner Wörter systematisieren, können wir sogenannte Laut(wandel)gesetze aufstellen. Wenn sich ein gewisser Laut in einem Wort gegenüber seinem Pendant in einer anderen Sprache anders verhält, müssen wir das für den gleichen Laut auch in anderen Wörtern annehmen. Ein anlautendes /h/ in germanischen Sprachen entspricht zum Beispiel systematisch einem /k/ im Lateinischen, vergleiche dt. haben, Hund, Herz mit lat. capio, canis, cordis. Das Lateinische ist dabei konservativer und hat das indogermanische /k/ bewahrt, beim Germanischen scheint ein Lautwandel eingetreten zu sein, den wir mit der sogenannten „1. Lautverschiebung“ beschreiben können. Mit akribischer Genauigkeit haben Linguistinnen und Linguisten besonders für die indogermanischen Sprachen eine Fülle an detaillierten Lautgesetzen postuliert, wobei nach wie vor welche dazukommen. Die Summe der erfolgreichen Anwendungen dieser Gesetze erlaubt uns nicht nur, gesicherte Verwandtschaftsverhältnisse einzelner Sprachen zu beschreiben, sondern auch gemeinsame – nicht belegte – Grundsprachen zu rekonstruieren. Durch den Vergleich früher Sprachzeugnisse des Deutschen, Englischen und Gotischen lässt sich das Urgermanische rekonstruieren, durch den Vergleich weiterer indogermanischer Sprachen das Urindogermanische, das nach heutigem Kenntnisstand möglicherweise vor mehr als 5000 Jahren in der nordöstlichen Schwarzmeergegend gesprochen wurde.

Lautgesetze helfen uns dabei, Wortentsprechungen (sogenannte Kognate) zu finden, auch wenn sich die Wörter in den einzelnen Sprachen semantisch (also in ihrer Bedeutung) voneinander entfernt haben. Das deutsche Wort weich entspricht lautgesetzlich nicht dem englischen soft, sondern dem engl. weak, das Wort klein nicht dem engl. little, aber dem engl. clean. Eine lautliche Entsprechung von little finden wir in süddeutschen Namen: Litzelbauer bedeutet nichts anderes als Kleinbauer. Lässt sich ein Wort in einer Sprache nicht lautgesetzlich erklären, so liegt der Verdacht nahe, dass es sich um ein Lehnwort handelt. Dabei merken die „aufnehmenden“ Native Speaker oft nicht, dass in der eigenen Sprache bereits Wörter existieren, die mit dem entlehnten Wort verwandt sind. So gehen etwa das deutsche Wort Hanf und das griechische Cannabis auf dieselbe Wurzel zurück, wobei die frühe Geschichte dieses Wortes im Dunklen liegt, da es als Kulturwort schon vor der schriftlichen Überlieferung in viele Sprachen Asiens und Europas Eingang gefunden hat. Während Hanf in den letzten Jahrtausenden viele sprachliche Entwicklungen durchgemacht hat, die für germanische Sprachen typisch sind (erneut die Verschiebung des anlautenden /k/ zu einem Hauchlaut, Schwund der komplexen Endungen und unbetonten Endsilben usw.), wurde Cannabis über das Lateinische zu späterer Zeit als medizinischer bzw. naturwissenschaftlicher Fachterminus wieder entlehnt. Bis heute steht das eher fachsprachliche Cannabis dem eher volkssprachlichen Hanf gegenüber und beide werden in unterschiedlichen funktionalen Bereichen verwendet.

Gibt es noch andere Möglichkeiten Sprachverwandtschaften herauszuarbeiten?

Natürlich lassen sich nicht nur auf der Lautebene die Gemeinsamkeiten (und Unterschiede) von Einzelsprachen herausarbeiten, sondern darüber hinaus auf der Ebene der Grammatik. Auch hier können Einzelbefunde zunächst irreführend sein (zumal grammatischer Wandel deutlich komplexer und undurchsichtiger ist als Lautwandel), doch die Summe an gemeinsamen Prinzipien, die man vor allem bei den ältesten belegten indogermanischen Sprachen finden kann, lassen keinen anderen Schluss zu als den, dass wir es hier mit eng verwandten Sprachen zu tun haben, die alle ihren Ausgang in der gleichen Ursprache genommen haben.

Beantwortet hat diese Frage:

Mag. Fabian Fleißner

Er ist seit Dezember 2014 Universitätsassistent (Praedoc) am Institut für Germanistik (Lehrstuhl Prof. Dr. Alexandra N. Lenz). Zusammenarbeit besteht vor allem mit PP03 des SFB „Deutsch in Österreich“ (Datenerhebung und -auswertung). Forschungsschwerpunkte sind unter anderem historische Syntax und Pragmatik altgermanischer Sprachen mit Fokus auf das Verbalsystem.