Ist Vorarlbergerisch überhaupt Deutsch?
beantwortet von: Jan Höll
Wie bist du zur (Forschungs-)Frage gekommen?
Liest man die Frage „Ist Vorarlbergerisch überhaupt Deutsch?“, lässt sich schon erahnen, dass der*die Fragesteller*in die Meinung vertritt (oder zumindest die Vermutung hat), dass Vorarlbergerisch in der Tat nicht zur Deutschen Sprache gehört. Damit streift die Frage bereits meine eigenen linguistischen Forschungsinteressen, insofern ich mich damit beschäftige, welche Einstellungen Personen zu verschiedenen Sprachen und ihren Sprecher*innen haben. Als gebürtiger Vorarlberger handelt es sich aber auch um eine Frage, die mich persönlich „betrifft“. Wenn man sich in Wien als Vorarlberger outet, wird einem häufig gesagt, wie „lustig“ doch der Dialekt sei oder wie „schlecht“ man ihn verstehe. Die augenzwinkernde Frage, ob Vorarlbergerisch denn überhaupt Deutsch sei, überrascht mich dementsprechend wenig und ich freue mich hier ein wenig darüber sprechen zu dürfen.
Warum ist Vorarlbergerisch (angeblich?) für viele Österreicher*innen so schwer zu verstehen?
Vorarlbergerisch ist Teil des alemannischen Dialektraumes, während in den restlichen Bundesländern Österreichs (fast überall) bairischeDialekte gesprochen werden (bairisch (mit ⟨i⟩!) wohlgemerkt - näheres über die Einteilung österreichischer Dialekte und darüber, warum es viele verschiedene gibt. Vorarlbergerisch ist somit aus linguistischer Sicht näher verwandt mit Schwäbischen und Schweizerdeutschen Dialekten als etwa mit Kärntnerisch oder Wienerisch. Gleichzeitig gehören sowohl alemannische als auch bairische Dialekte zu den sogenannten oberdeutschen Dialekten, die einander in vielen Hinsichten mehr ähneln als den niederdeutschen Dialekten im Norden Deutschlands (häufig auch „Plattdeutsch“ genannt).
Die Zugehörigkeit zu einer anderen Dialektgruppe als den österreich-bairischen Dialekten ist wohl der primäre Grund, warum Vorarlbergerisch für die restlichen Österreicher*innen so schwer verständlich ist, da damit nämlich eine Vielzahl sprachlicher Unterschiede einhergeht. Dabei kann es sich um besondere Wörter (z. B. Hǟs für ‚Kleidung‘ oder tschutta für ‚Fußball spielen‘) oder auch spezielle lautlich Merkmale (so heißt es etwa mīn Hūs statt ‚mein Haus‘) handeln. Selbstverständlich sind aber die Unterschiede zwischen Vorarlbergerisch und (Standard-)Deutsch („Hochdeutsch“) bei Weitem nicht so groß wie etwa zwischen Deutsch und Englisch.
Wie lassen sich Einzelsprachen voneinander abgrenzen?
Die Frage bezüglich Vorarlbergerisch mag scherzhaft gemeint sein, die Abgrenzung einzelner Sprachen (sprachwissenschaftlich auch Einzelsprachen genannt) voneinander ist aber keineswegs trivial. Grundsätzlich kann man hier zwischen sprachinternen und sprachexternen Faktoren unterscheiden, anhand derer verschiedene Sprachen abgegrenzt werden können. Sprachinterne Faktoren betreffen den Aufbau der Sprache selbst, also zum Beispiel den Wortschatz oder das Lautinventar. Sprachexterne Faktoren wiederum umfassen Dinge wie das Vorhandensein von Wörterbüchern für eine Sprache (denn nicht alle Sprachen verfügen über eigene Wörterbücher), die Verwendung einer Sprache in den Medien (wird eine Sprache etwa auch geschrieben oder gibt es sie nur im mündlichen Sprachgebrauch?) oder auch ihren rechtlichen Status (viele Länder haben etwa anerkannte Amtssprachen oder auch Minderheitensprachen, was Sprecher*innen mit bestimmten Rechten ausstattet wie z. B. das Recht auf Unterricht oder Gerichtsverfahren in der jeweiligen Sprache). Welche Faktoren man für die Einteilungen von Sprachen heranzieht und welche Wichtigkeit man ihnen beimisst, hängt jedoch von dem verwendeten theoretischen Modell ab. Oft ist es auch eine ideologische Frage, wo man die Grenzen zwischen Sprachen ansetzt.
Eine Systematik (unter vielen), die für die Abgrenzung von Sprachen in der Wissenschaft herangezogen wird, ist jene von „Abstand- und Ausbausprachen“. Diesem Modell nach kann eine Varietät entweder dann als (eigene) Sprache gelten, wenn sie sich ausreichend weit von einer anderen Sprache unterscheidet, also in Bezug auf sprachinterne Faktoren genügend Abstand besteht. Demzufolge wären etwa Deutsch und Chinesisch in Relation zueinander eigene Sprachen, da sie quasi auf allen linguistischen Ebenen erheblich voneinander abweichen.
Manche Varietäten jedoch sind sich in ihrer Struktur sehr ähnlich, werden aber dennoch als eigene Sprachen wahrgenommen, beispielsweise (Standard-)Norwegisch und Dänisch. Hier wird diesem Modell nach von Ausbausprachen gesprochen: Durch eine Kombination bestimmter außersprachlicher Faktoren werden Varietäten zu Einzelsprachen „ausgebaut“. Häufig spielen dabei nationale Emanzipationsbewegungen und Fragen der Identität eine Rolle. Ein Beispiel, wie das konkret aussehen kann, liefert die luxemburgische Sprache. Aus linguistischer Sicht basiert die Luxemburgische Standardsprache auf moselfränkischen (und somit deutschsprachigen) Dialekten, wie sie auch in den anliegenden Gebieten Belgiens, Frankreichs und Deutschlands noch gesprochen werden. Seit dem 20. Jahrhundert wird dieser Dialekt in Luxemburg jedoch zunehmend normiert (unter anderem erschienen verschiedene Wörterbücher), die Bedeutung als Schriftsprache (z. B. in Literatur und Presse) nimmt zu und das Luxemburgische erhielt 1984 den Status einer Amtssprache. Luxemburgisch wird also aktiv zu einer eigenen Sprache „ausgebaut“. Das ändert selbstverständlich nichts an der Sprachstruktur, die weiterhin große Ähnlichkeit mit moselfränkischen Dialekten auf der anderen Seite der Luxemburgisch-Deutschen Grenze aufweist, aber zumindest auf Basis sprachexterner Faktoren erfüllt Luxemburgisch zunehmend die Kriterien einer Einzelsprache.
Letztendlich ist es aber oft auch mit dem vorgestellten Modell nicht immer zweifelsfrei festzulegen, was nun eine eigene Sprache ist und was nicht.
Könnte Vorarlbergerisch eine eigene Sprache werden?
Mit den bisher angestellten Überlegungen können wir nun ein kleines Gedankenexperiment wagen: Wie könnte Vorarlbergerisch zu einer eigenen Sprache werden? Es ist nicht vorstellbar, dass Vorarlbergerisch über seinen innersprachlichen Abstand (siehe voriger Abschnitt) zum Standarddeutschen als eigene Sprache definiert werden könnte, dazu sind sich die Varietäten im deutschsprachigen Raum länderübergreifend – Verständlichkeit hin oder her – zu ähnlich.
Was jedoch – zumindest theoretisch – durchaus möglich wäre, ist eine Emanzipierung des Vorarlbergerischen (oder auch jeder beliebigen anderen Varietät des Deutschen) von der deutschen Standardsprache im Sinne einer Ausbausprache, so wie dies beim Luxemburgischen geschieht beziehungsweise schon geschehen ist. Ein paar Grundlagen für Ausbauschritte sind durchaus vorhanden: Vorarlbergerisch wird in nahezu allen Alltagssituationen verwendet, in geringem Ausmaß findet der Dialekt auch in (mündlichen) Nachrichtenformaten Verwendung (beispielsweise in Interviews des Vorarlberger Nachrichtenportals vol.at). Durch die digitalen Medien nimmt auch die Verwendung von Vorarlbergerisch in geschriebener Form zu. Dem gegenüber spielt jedoch Vorarlbergerisch als Sprache der Literatur und in Printmedien kaum eine Rolle, eine gemeinsame Rechtschreibung, Grammatik o. Ä. ist unwahrscheinlich und der Wunsch, Vorarlbergerisch als Amtssprache anzuerkennen, steht wohl nicht im Raum. Gäbe es in Vorarlberg ein entsprechendes Bestreben, könnte aber auch der Vorarlberger Dialekt ausgebaut werden. Wie beim Luxemburgischen wäre dies aber eine politisch-gesellschaftliche Entwicklung und keine innersprachliche.
Zurück zur eigentlichen Frage: Ist Vorarlbergerisch nun Deutsch?
Beim Vorarlbergerischen (in all seinen Ausformungen) handelt es sich um einen oberdeutschen Dialekt und es ist als solcher Teil der deutschen Sprache. Aufgrund der vergleichsweise vielen Unterschiede zum Standarddeutschen („Hochdeutsch“) und auch zu den im restlichen Österreichüblichen bairischen Dialekten ist es jedoch für viele Menschen schwer verständlich und mag schon einmal wie eine „andere Sprache“ wirken. Dass Vorarlbergerisch aber tatsächlich einmal den Schritt zu einer Einzelsprache macht, ist aber eher unwahrscheinlich.
Beantwortet hat diese Frage:
Jan Höll, BA MA
Seit Oktober 2020 als Praedoc im SFB-Teilprojekt PP08 (Standardvarietäten aus Perspektive der perzeptiven Variationslinguistik) tätig. Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Spracheinstellungsforschung und der Korpuslinguistik.