Warum können Wiener*innen Dialekte so schlecht bestimmten Bundesländern zuordnen?
beantwortet von: Ludwig M. Breuer
Was ist die (Forschungs-)Frage?
Die Frage, die ich beantworten soll, steht ja schon im Titel – allerdings ist sie in dieser Form keine Forschungsfrage. Einerseits enthält „so schlecht“ eine relativ ungenaue, wertende Kategorisierung, andererseits steckt in der Frage ja bereits eine Grundannahme. Natürlich ist das nichtsdestoweniger eine gerechtfertigte Frage. Als Linguist muss ich allerdings fragen: 1. Wie schlecht? Im Vergleich wozu? und 2. Ist das denn wirklich so?
Und tatsächlich habe ich mich schon gefragt: Können Wiener*innen andere Dialekte regional oder anders zuordnen? Was sind für Wiener*innen überhaupt Dialekte?
Wie bist du zur (Forschungs-)Frage gekommen?
Im Zuge meines Dissertationsvorhabens beschäftige ich mich mit der syntaktischen Variation von Wiener Varietäten, d. h. inwiefern unterscheidet sich beispielsweise der Satzbau von Wiener Dialekt und Wiener „Hochdeutsch“ (Standard) bzw. auch allen Varietäten dazwischen. Wie so häufig bei wissenschaftlichen Fragstellungen, werfen diese sofort andere Fragen auf; z. B. was verstehen Wiener*innen überhaupt unter „Wienerisch“ oder unter „Wiener Dialekt“? Und vieles mehr (noch schlimmer wird es, wenn man Antworten auf einzelne Fragen gefunden hat, weil das wieder tausende Fragen aufwirft) – aber eben auch: Wie grenzen Wiener*innen ihren Dialekt von anderen ab? Wenn sie das machen, müssen sie ja andere kennen und erkennen und evtl. eben auch zuordnen. Die konkrete Frage, wie sie im Titel steht, wurde dem IamDiÖ-Team bei einer der zahlreichen Öffentlichkeitsaktivitäten gestellt.
Welche Methode hast du gewählt? Wie bist du an die Frage rangegangen?
Hier gibt es eine Vielzahl an Methoden, um die Fragestellung anzugehen – es kommt ein wenig auf die Perspektive an. Direkt „messbar“ ist das Identifizieren von Varietäten nicht – dafür ist Sprache und Einstellung zu Sprache – vereinfacht gesagt – zu komplex. Es gibt zu viele Variablen, die man hier berücksichtigen kann und über die man teilweise nicht viel weiß. Außerdem ist das Identifizieren eines Dialekts sehr individuell. Ein Beispiel: Es kann sein, dass ein*e Wiener*in genau ein Merkmal eines anderen Dialekts erkennt. Dieses kann auf jeder der linguistischen Systemebenen sein: z. B. ein lautliches Phänomen (was die Basis traditioneller linguistischer Einteilungen ist), ein lexikalisches (so wie für viele „oida“ Wienerisch ist) oder eben auch ein syntaktisches (z. B. der doppelte Relativsatzanschluss wie in „Der Mann, der was zu 100% im Fernsehen so redet“.). Wahrscheinlicher ist natürlich, dass Personen anhand eines Bündels solcher Merkmale Dialekte erkennen. Hinzu kommen aber noch Attitüden, also Einstellungen zu den Dialekten, z. B. kann jemand vielleicht anhand des Aussehens jemanden einer gewissen Region zuordnen, oder tut das halt einfach (auch ohne dies zu können). Außerdem kommt es auf die Kenntnisse der Person an, die man fragt. Es vermischen sich also geopolitische Kenntnisse mit linguistischen sowie mit Einstellungen. Und zu allem Überfluss kommt dazu, dass eigentlich jeder Mensch ein bisschen anders „wahrnimmt“, also sich die tatsächliche Perzeption unterscheidet. Worauf ich hinaus will: Man muss sich entscheiden, welchen Aspekt man sich anschaut.
Methoden und Daten
In meinem Dissertationsprojekt bin ich dieser Frage von der Einstellungsseite aus begegnet, und dort über die Selbsteinschätzung. Auch wenn Selbsteinschätzungen natürlich kein konkreter „Messwert“ sind, sind diese gerade für Einstellungsfragen sehr wichtig – und sagen eben viel über die Einstellung aus. In meinem Projekt habe ich also in einem Interview Gewährspersonen unter anderem gefragt:
„Was ist für Sie „Dialekt“? / Was ist für Sie „Mundart“?, „Welche Erfahrungen haben Sie außerhalb Wiens in Bezug auf Ihre Sprache und in Bezug auf die Sprache anderer Menschen gemacht?“, „Wenn Sie sich immer weiter von Wien wegbewegen, ab wo würden Sie sagen, dass man dort ganz anders spricht als in Wien?“ und – verkürzt: „bemerken Sie Unterschiede zwischen ihrem Wiener Dialekt zu anderen österreichischen Dialekten?“
Diese Fragen sind an verschiedenen Stellen des Interviewleitfadens und wiederum in eine größere Erhebung eingebettet – sie stehen nicht im Fokus des Dissertationsprojekts, geben aber schon einige gute Hinweise, um Teilantworten auf die am Anfang gestellte Frage zu erhalten.
Im Idealfall kann man diese eher subjektiven Daten mit anderen Daten rückkoppeln; in meinem Projekt war dafür kein Platz. Aber im Teilprojekt 08 des SFB Deutsch in Österreich (in Kooperation mit IamDiÖ) dafür umso mehr. Es wurden z. B. sogenannte Hörerurteilstests durchgeführt, d. h. Sprachproben vorgespielt und die Befragten sollten sie z. B. zu einem Ort / Bundesland zuordnen1 (Probiert das gerne selbst mal, z.B. beim Varietätenraten)
Wie hast du die Daten analysiert? Was hast du dann mit den Daten/Infos gemacht?
Die Daten aus den Interviews können zunächst eher qualitativ ausgewertet werden. Da es sich um eher offene Fragen handelt, können verschiedenste Antworten dabei herauskommen. Diese werden gesichtet und dann kategorisiert, wobei natürlich aufgrund der Fragestellung Kategorien angelegt werden. Also z. B.
naja, so, Oberösterreich, spricht man schon ganz anders, Steiermark eigentlich auch schon, ja die haben einfach manchmal andere Ausdrücke (NV: INT)2
Dies kann markiert werden als „Unterschiede bewusst“, aber ebenso die Unterscheidung zu Oberösterreich und Steiermark, und auch dass diese Unterscheidung vor allem lexikalisch begründet wird (andere Ausdrücke).
Oder: ah, [2s] ja die, [2s] wenn man so alte Leute? die kennt man schon an der Aussprache dann. die sprechen anders? aber die jungen eigentlich nicht. oder kaum. (FF: INT)2
Hier wird neben der regionalen auch eine generationelle Einteilung getroffen und das eben auch für Dialekte außerhalb Wiens – die Gewährsperson kann nach eigener Meinung also besser bei älteren Sprecher*innen die Herkunft anhand des Dialekts erkennen, als bei jüngeren – bzw. erkennt mehr Unterschiede zum Wiener Dialekt.
Man merkt schnell, dass bei so offenen Fragestellungen, die Antworten sehr individuell sein können, was tiefgehende Analysen ermöglicht – und Automatisierung schwierig macht (auch hier gibt es Methoden, aber die sind etwas komplexer). Für die Beantwortung der hier gestellten Frage bleibe ich eher oberflächlich und schaue nur, ob die Gewährpersonen irgendwie zu erkennen geben, dass sie a) andere Dialekte unterscheiden und das b) regional.
Die Daten aus dem „Varietätenraten“ sowie dem Hörerurteilstest von Rita Stiglbauer - die so freundlich war, mir ein Zwischenergebnis ihres Tests zur Verfügung zu stellen: danke!! – dagegen können quantitativ ausgezählt werden, schlicht danach, wer wie oft die Sprecher*innen der Aufnahmen dem richtigen Bundesland zuordnen konnte. Im hier verwendeten Datensatz des Varietätenratens wurden Sätze sowohl im Standard (~„Hochdeutsch“) als auch Dialekt vorgespielt, welche die Gewährspersonen aus dem SFB Deutsch in Österreich gesprochen haben. Die Antworten wurden vorwiegend beim FWF BeOpen gesammelt; herausgefiltert wurden in der vorliegenden Untersuchung alle Antworten von Linguist*innen – das sind immer schlechte Informant*innen. Im Fragebogen von Rita Stiglbauer aus Teilprojekt 08 dagegen wurden nur dialektale Tonbeispiele verwendet.
Zu welchen Ergebnissen bist du gekommen? Was ist dabei rausgekommen?
Das vielleicht spannendste Ergebniss aus den quantitativen Ergebnissen aus dem Varietätenraten ist: Personen, die ihr Leben hauptsächlich in Wien verbracht haben, erkennen die regionale Herkunft von Sprecher*innen genauso gut oder schlecht, wie jene, die aus anderen Bundesländern oder Regionen kommen. Und die Ergebnisse sind erstaunlich ähnlich:
Wenn man alle Antworten vergleicht, können Wiener*innen (n=54) die – zugegeben schwierig zuordenbaren – Audioaufnahmen zu rund 30% richtig erkennen, Leute aus anderen Regionen (n=67) ebenso zu 30%. Ein kleiner Unterschied ist feststellbar, wenn man nach Stimulus unterscheidet, aber auch dieser ist eher marginal: Bei den Dialektstimuli sind Personen aus Wien mit 35% richtigen Antworten etwas besser, als jene aus anderen Regionen mit 33% - bei den Aufnahmen die „hochdeutsch“ eingesprochen worden sind, erkennen die Wiener mit 24% etwas seltener das richtige Bundesland als die anderen mit rund 28%.
Beim Test von Rita Stiglbauer sieht das ähnlich aus:
Ohne wiederum ins Detail zu gehen, wurden jeweils nur Dialektstimuli und zwar jeweils 12 in diesem Test verwendet. Die durchschnittliche Erkennungsrate liegt bei Gewährspersonen aus Wien (n=84) mit 35% nur marginal unter den 36% richtig identifizierten Dialekten jener Personen, die nicht aus Wien stammen (n=260).
Was ist deine Schlussfolgerung? Deine Erkenntnis? Was ist offengeblieben?
Die Schlussfolgerungen daraus zeigen natürlich nur eine Tendenz: Empirisch betrachtet, ergibt sich jedenfalls aus den untersuchten Befragungen, dass Wiener*innen Dialekte genauso gut oder schlecht erkennen können, wie Personen aus anderen Bundesländern (zumindest anhand der gebotenen Stimuli und innerhalb der angewandten Methode). Die relativ plakative Auswertung zeigt aber auch, dass die Fragestellung an sich noch in viele weitere Fragen zerteilt werden könnte – so wurde oben stillschweigend davon ausgegangen, dass Personen, die aus „Wien“ oder aus „anderen“ Bundesländern kommen, einfach unterschieden werden können. Wenn man nun die Daten allerdings genauer ansieht, erkennt man, dass die Personen natürlich vielschichtige Sprachbiographien haben – erfasst sind hier vor allem verschiedene Geburts- und Wohnorte; schließlich ist es aber auch davon abhängig mit welchen verschiedenen Varietäten sie überhaupt in Kontakt gekommen sind und – wie oben schon erwähnt – wie sie diese überhaupt definieren.
Was ich hier aber vor allem zeigen wollte, sind drei Dinge:
- Schon eine scheinbar so einfache Fragestellung, wirft sehr viele weitere und detailreichere Fragen auf und ermöglicht ganz unterschiedliche Herangehensweisen.
- Sowohl qualitative als auch quantitative Methoden eignen sich dafür, sich verschiedenen Antworten auf die Frage zu nähern – am besten kombiniert man beides, wenn man der Sache wirklich „auf den Grund“ gehen möchte.
- Das Gerücht, dass Wiener*innen schlechter Dialekte erkennen können, als Personen aus anderen Bundesländern ist – so scheint es zumindest aus diesen rudimentären Betrachtungen – vor allem ein Gerücht.
Auch diese Einschätzung über das Dialektidentifikationsvermögen von Wiener*innen gehört zum äußerst spannenden Untersuchungskomplex der Spracheinstellungsforschung – und hat schließlich Auswirkungen darauf, wie Wiener*innen bzw. wienerische Varietäten eingeschätzt und auch wahrgenommen werden.
Fußnoten
1 Darüber hinaus wurden natürlich noch andere Fragen gestellt, die wir hier aber leider nicht behandeln können.
2 NV und FF stehen jeweils für eine bestimmte Gewährsperson, die hier zitiert wird, INT steht für Interview, das kann nachgelesen werden in: Breuer, Ludwig Maximilian (2021): „Wienerisch“ vertikal. Theorie und Methoden zur stadtsprachlichen syntaktischen Variation am Beispiel einer empirischen Untersuchung in Wien. Dissertation. Universität Wien.
Beantwortet hat diese Frage:
Mag. Ludwig M. Breuer
Er ist Variations- und Computerlinguist, arbeitet inzwischen als IT Consultant für Digital Humanities Projekte aus vielfältigen Fachrichtungen am Austrian Centre for Digital Humanities - lehrt am Institut für Germanistik und für den MA Digital Humanities an der Universität Wien. Im Spezialforschungsbereich Deutsch in Österreich arbeitet er in den Teilprojeken 11, 03 und 01 mit. LMB hat seine Dissertation zur vertikalen syntaktischen Variation in Wien geschrieben.