Warum hört jeder, dass ich aus Deutschland komme?

beantwortet von: Ludwig M. Breuer

Wie bist du zur (Forschungs-)Frage gekommen?

„Warum hört jeder, dass ich aus Deutschland komme?“ – ist natürlich nicht die Forschungs(!)-Frage, aber eine allzu verständliche, die nicht nur ich mir schon gestellt habe. Die Frage ist recht beliebt unter Besucherinnen und Besuchern unserer öffentlichen Events – zumindest unter jenen, die eben aus Deutschland kommen. Ich selbst bin auf die Frage gestoßen am Anfange dieses Jahrtausends (damit klingt die Frage auch gleich viel älter), lange bevor ich germanistische Sprachwissenschaft studiert hatte. Damals war ich nur zu Besuch in Wien, denn ja, ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, quasi: ein Betroffener. Ich bin mit einer Freundin (sie war schon lange Wahlwienerin) auf der Mariahilfer Straße spaziert und meinte: Naja, die erkennen ja nicht sofort, dass ich aus Deutschland komme. Ein Passant, der uns gerade überholte, grinste und sagte: „Doch“, und ging seines Weges. Die Antwort auf mein erstauntes Gesicht war: „In Österreich hört man es einfach, wenn du aus Deutschland kommst.“ Ganz so einfach ist die Antwort auf diese Frage natürlich nicht. Um diese Frage beantworten zu können, habe ich Sprachwissenschaft studiert.

Was ist eigentlich die (Forschungs-)Frage?

Scherz beiseite, das war natürlich nicht der Grund für meine Studienwahl. Um eine Antwort zu finden, sind Methoden aus diesem Fachgebiet natürlich naheliegend. Allerdings verstecken sich in der Frage viele verschiedene Unterfragen, man muss sie also – wie in der Wissenschaft üblich – in verschiedene kleinere Fragen einteilen, um sich der Antwort langsam anzunähern. Was steckt also in der obigen Frage? „Hört jeder, dass ich aus Deutschland komme?“, „Woran erkennt man (wenn man nicht gerade weiße Tennissocken in Sandalen trägt), dass jemand aus Deutschland kommt?“, „Warum ist es wichtig, woher ich komme?“, und so weiter und so fort.

Aus den oben genannten Unterfragen werden üblicherweise Behauptungen aufgestellt, also Hypothesen, die es – wenn möglich – zu widerlegen bzw. bestätigen gilt. Je nachdem, welche Behauptung überprüft werden soll, bieten sich unterschiedliche Methoden an.

Deshalb muss ich hier auch aufpassen nicht zu sehr abzuschweifen.1

Welche Methode hast du gewählt?

Also zum Wesentlichen. Bei dieser Frage müssen verschiedene Blickwinkel unterschieden werden (die eigentlich natürlich zusammengehören, aber methodisch getrennt werden sollten): Die so genannte „objektsprachliche“ Ebene und die Ebene der (subjektiven) Spracheinstellung und Sprachwahrnehmung. Das heißt: was steckt tatsächlich in der Sprache selbst, und was sind eher subjektive Einschätzungen, Einstellungen oder auch Wahrnehmungen etc.2 Je nach Blickwinkel werden verschiedene (empirische) Methoden relevant, und ich würde wirklich gerne viele vorstellen,3 aber dafür ist zu wenig Platz.

Wie unterscheidet sich das Deutsche in Deutschland und das Deutsche in Österreich objektsprachlich?

Zunächst zur „objektsprachlichen“ Ebene: Es ist landläufig bekannt, dass Menschen aus verschiedenen Ländern unterschiedlich reden. Das betrifft nicht nur unterschiedliche Sprachen, sondern eben auch unterschiedliche Formen ein und derselben Sprache. Für das Deutsche zum Beispiel gilt dies im Vergleich von Deutschland, Österreich, Luxemburg und der Schweiz (u.a.) – aber natürlich auch innerhalb der Länder kann man z.B. zwischen Formen aus Vorarlberg und Wien unterscheiden. Das wiederum betrifft nicht nur die verschiedenen Dialekte, sondern auch die so genannten Standardsprachen (unterschiedliches „Hochdeutsch“ sozusagen). Das ist ja eigentlich der Grund, warum es den SFB gibt (siehe z.B. die verschiedenen Ansätze hier) bzw. eines der Kernforschungsgebiete der germanistischen Sprachwissenschaft.

Das heißt die lautliche (Phonetik / Phonologie), die Wortwahl (Lexik), den Satzbau (Syntax), aber auch eher lebenspraktische Aspekte der Pragmatik (z.B. „Höflichkeitsformen“ – gerade für diese Frage, wissen sicher viele Lesende, wie sich das unterscheiden kann …) und alles andere, was irgendwie sprachlich vermittelt wird.

Am besten schaut man, wie die Leute vorort konkret Sprache verwenden – so haben das z. B. das Variantenwörterbuch oder auch die Variantengrammatik gemacht. Hier wurden Zeitungstexte aus den verschiedenen Ländern und Regionen verglichen, da Zeitungen als „Standardvorbilder“ gelten – zumindest für die geschriebene Sprache. Ein wenig anders ist das Vorgehen beim Atlas deutscher Alltagssprache, bei dem mit einem Online-Fragebogen Sprechende befragt werden, welche Form den Gewährspersonen „alltäglicher“4 erscheint. (Für ein Beispiel zum Dialekt schaut mal bei diesem WBÖ-Blogbeitrag vorbei.) Dieses Vorgehen ist auch an der Schnittstelle zwischen objektsprachlichen und subjektiven Untersuchungen zu sehen. Denn: Was die Leute letztlich als „alltäglich“ empfinden, ist nicht unbedingt das, was „alltäglich“ auch verwendet wird. 

Wie dem auch sei: Schnell zeigt sich, dass man ein „Finkenobligatorium“ vor allem in der Schweiz kennt, dagegen „Ich habe da gestanden“ in Österreich eher unüblich ist und in Deutschland Menschen zwei Mal darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn jemand aus Österreich seinen „Koffer backt“. Eh klar, damals – Sie wissen schon, zur Jahrtausendwende – habe ich auch erstmal nach einer „Tüte“ im Wiener Supermarkt gefragt. Der junge Verkäufer setzte ein breites Grinsen (oder auch: einen breiten Grinser) auf und meinte: „Ich hab‘ eine Tüte, die darf ich dir aber nicht verkaufen. Du meinst a Sackerl!“ Als Supermarktangestellter in Wien wusste er natürlich was ich von ihm wollte. Warum also diese Reaktion? Nur wegen des Schmähs? Oder steckt mehr dahinter?

Was hat die Frage mit der subjektiven Wahrnehmung und Einstellung zu tun?

Die letzten Fragen zielen auf eher subjektive Blickwinkel ab. Natürlich kann es sein, dass sich der Verkäufer den Witz nicht verkneifen konnte – aber damit dieser überhaupt funktioniert, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein, vereinfacht bspw.: 1. Er muss überhaupt einmal bemerken, dass ich etwas anderes als Sackerl gesagt habe. 2. Tüte muss mehrere Bedeutungen haben. 3. Er muss davon ausgehen, dass ich diese Bedeutungen kenne. 4. Die Bedeutung ‚Einkaufstragetasche‘ vom Wort Tüte muss in der aktuellen Situation unüblich sein oder vom Verkäufer als unüblich eingeschätzt werden. Kurzum: Auch wenn objektsprachlich alles klar ist (Tüte = Sackerl = Einkaufstragetasche), muss dies (subjektiv) in der Wahrnehmung oder auch Einstellung nicht so sein. Wenn man diese Aspekte untersuchen will, gilt konkret zu unterscheiden, was man betrachtet: Die Wahrnehmung oder die Einstellung – beides ist natürlich wieder eng miteinander verknüpft. Die oben genannten objektsprachlichen Merkmale alleine reichen nicht dazu aus, jemanden als „Deutsche/n“ zu identifizieren. Vielmehr müssen dieses Merkmal erstmal wahrgenommen und dann entsprechend eingeschätzt werden. Man unterscheidet hierbei zwischen Salienz (ein salientes Merkmal wird wahrgenommen) und Pertinenz (ein pertinentes Merkmal wird als wichtig für die Situation eingeschätzt).

Es gibt viele sprachliche Merkmale, die z.B. einen aus München stammenden Einkäufer (wie mich) vom Wiener Verkäufer unterscheiden – nicht alle davon wird der Verkäufer überhaupt bemerken (z. B. lautlich fällt vielleicht nicht besonders auf, wenn ich ein „normales“ L und kein Meidlinger L realisiere.) Wiederum gibt es Merkmale, die zwar auffallen, die der Verkäufer aber vielleicht nicht als relevant einschätzt und deshalb auch nicht dadurch darauf schließt, dass ich aus Deutschland komme (z. B. wenn ich des statt das sage.) Dagegen gibt es so genannte Schibboleths, die nicht nur stark auffällig sind, sondern dem Verkäufer direkt verraten, woher ich komme. Tüte ist eines davon. Aber auch „Er war im Supermarkt gewesen“, wird von manchen eher nach Deutschland positioniert – wiederum gibt es Schibolleths auf allen sprachlichen Ebenen und sie stammen natürlich aus den oben genannten objektsprachlichen Besonderheiten der verschiedenen Regionen. Doch erst in der Verbindung von objektsprachlichen Besondersheiten zur Wahrnehmung und der Einstellung der Zuhörenden („dieses sprachliche Phänomen gehört zu jener Region“) ergibt sich, dass die Herkunft der sprechenden Person identifiziert wird. Das wird leicht ersichtlich, wenn man darüber nachdenkt, wie gut man Personen sprachlich einem Ort zuordnen kann, die aus Regionen aus der Nähe kommen (Unterschied zwischen Wienerinnen und Wienern und Oberösterreicherinnen  und Oberösterreichern ist für viele aus Österreich klar „zu hören“, für Menschen aus Norddeutschland aber vielleicht nicht.)5

Diese hier im Detail vorzustellen, sprengt den Rahmen wohl noch mehr, als diese Antwort es ohnehin schon tut (siehe zum Beispiel einen Ansatz mit drei sehr unterschiedlichen Methoden in diesem Blog-Beitrag. So viel sei gesagt: Einfach ist es nicht. Man befragt zum Beispiel die Personen nach ihrer Meinung zu einer bestimmten sprachlichen Form. Das versucht man möglichst geschickt und vielseitig anzugehen, weil die Gewährspersonen einerseits manchmal – vereinfacht gesagt – zu höflich sind, andererseits weil Einstellungen eben vielschichtig und nicht nur schwarz und weiß sind. Auch Methoden zum Erforschen der Wahrnehmung gestalten sich schwierig, weil sie immer eben von der Einstellung überfachtet werden. Meistens werden allerdings für wahrnehmungsbezogene Fragestellungen den Gewährspersonen Sprachbeispiele präsentiert, in denen Auffälligkeiten genannt oder in irgendeiner Form markiert werden sollen (z. B. Unterstreichung in Textvorlage).

In solchen Untersuchungen zeigt sich, dass es sprachliche Merkmale gibt, die von Menschen aus verschiedenen Regionen unterschiedlich stark wahrgenommen und sehr unterschiedlich eingeschätzt werden (z.B. was die Einschätzung als „Hochdeutsch“ betrifft, mehr dazu kann man vor allem auch von Teilprojekt 8 in Kürze erwarten).

Aber warum hört denn jetzt jeder, dass ich aus Deutschland komme?

Aufmerksame Lesende haben sicherlich gemerkt, wie ich mich um die Antwort um diese Frage herumdrücke. Wie eingangs erwähnt: Es ist alles nicht so einfach. Die Frage schneidet sehr viele verschiedene Dinge an, die beachtet werden müssen – sie ist vielschichtig und nicht leicht zu untersuchen. Ich versuche auf der Grundlage meiner Befragungen in der Dissertation und den Ergebnissen aus dem SFB DiÖ sowie allgemein aus der Variationslinguistik ein paar konkrete Antworten zu geben (die sich immer nur auf eine statistische Mehrheit oder auf Tendenzen bezieht, nicht auf Individuen, die naturgemäß auch Ausreißer sein können):

1. Nicht jede oder jeder hört, wenn jemand aus Deutschland kommt – das ist zum Beispiel wahr, für Deutsche! Gerade wir sind es, die uns nicht unbedingt identifizieren können, weil es für uns eben nicht auffällig ist, wenn jemand eine sprachliche Form verwendet, die in unserer Heimat üblich ist. Auch wenn das in Österreich ist. Allerdings kann sich das natürlich ändern, je länger man in einer anderen Umgebung ist.

2. Grundlage für das Identifizieren von Deutschen sind besondere sprachliche Merkmale, die eben „typisch“ für Deutschland sind, oder eben z. B. von Österreichern und Österreicherinnen als solche eingeschätzt werden. Diese Merkmale müssen nicht in ganz Deutschland verbreitet sein, z. B. würde ich mich hüten Brötchen zu Weckerl zu sagen, bin aber versucht, zu jeder Art von Weckerl Semmel zu sagen (nicht nur zur Kaiser- oder Sternsemmel). Wichtig ist, dass diese Merkmale auf allen sprachlichen Ebenen sind, und eben auch immer gemeinsam verwendet werden – die Menge aus diesen Merkmalen macht dann Deutsche zum Beispiel für Österreicher identifizierbar. Genauso erkennt aber jemand aus Bayern, jemand anderen aus Schwaben, oder eine Tirolerin einen Niederösterreicher.

3. Die Merkmale alleine genügen nicht, sie müssen auch wahrgenommen und (regional) eingeschätzt werden. Das bedeutet, dass die Personen eine bestimmte Vorstellung davon haben müssen, wie „Deutsche“ reden. Wenn ich rede, erkennen in Wien viele, dass ich aus Deutschland komme, sage ich ihnen auch, dass ich aus Bayern bin, wundert (und beruhigt) sie das manchmal, weil meine sprachlichen Merkmale eben nicht unbedingt als „bayerisch“ eingeschätzt werden, zumindest, wenn ich „Hochdeutsch“ spreche. Gleichzeitig muss es „wichtig“ genug sein, dass diese Feststellung überhaupt getroffen (und geäußert) wird. 

4. Österreicherinnen und Österreicher erkennen „Bundesdeutsch“ sehr häufig (und kommentieren es auch). Österreicher und Österreicherinnen haben ein sehr hohes Variationsbewusstsein, d. h. sie nehmen nicht nur sehr genau unterschiedliche Formen des Sprechens wahr, sondern sie verbinden dies auch stark mit gewissen Einstellungen. In Österreich sind die meisten Leute gewohnt, auf „nicht-Hochdeutsch“ zu stoßen, also z. B. dass es einmal Heim, dann Haam, manchmal Hääm oder wiederum Hoam heißt. Der Inhalt bleibt dabei derselbe, aber die verschiedenen lautlichen Formen lassen bspw. auf die Herkunft einer Person schließen. In Regionen, in denen es nicht alltäglich ist auf viele verschiedene Formen des Deutschen zu stoßen, könnte das Variationsbewusstsein anders aussehen (diese Vermutung muss aber erst noch belegt werden). Außerdem kennen Österreicherinnen und Österreicher z. B. aus den Medien das „Bundesdeutsche“ besser, als „Bundesdeutsche“ österreichische Sprachformen, d. h. sie können es also auch leichter identifizieren. Insgesamt bedeutet das also, dass Österreicherinnen und Österreicher eher dazu neigen, jemanden aus Deutschland sprachlich zu identifizieren als das vielleicht Personen aus Deutschland machen. 

5. Wenn Du nach einer Tüte im Wiener Supermarkt fragst, hört einfach jede und jeder, dass du aus Deutschland bist.

Fußnoten

1 Da ich beim Antworten eben doch abschweife, werden (insbesondere methodische) Zusatzinformationen in ausklappbaren Informationsboxen gesetzt – Sie entscheiden, wie tief Sie eintauchen wollen.

2 Das ist nur eine sehr grobe Unterscheidung, die gerne angesetzt wird. Natürlich ist Sprache ein sehr komplexes und vielschichtiges Untersuchungsobjekt und beide Ebenen gehören auch zusammen, weil das eine zum anderen führt bzw. aus dem anderen entsteht.

3 Dass ich gerne über Datenerhebung spreche, beweist zum Beispiel unser Podcast.

4 Das kann auch bedeuten, dass in Regionen, in denen häufiger im Dialekt gesprochen wird, zu dialektalen Varianten tendieren, wobei Regionen, in denen der Dialekt nur privat verwendet wird, eher zu standardsprachlichen Varianten.

5 Viel gäbe es außerdem noch über die Funktion dieser Unterscheidungen zu sagen, also warum können Menschen überhaupt die Herkunft von anderen identifizieren anhand der Sprache? Was ist der nutzen? Was „macht“ man damit? Hierzu empfehle ich diesen Podcast-Beitrag.

Beantwortet hat diese Frage:

Mag. Ludwig M. Breuer

Er ist Variations- und Computerlinguist, arbeitet inzwischen als "digitaler Lexikograph" am Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Austrian Centre for Digital Humanities), dissertiert am Institut für Germanistik der Universität Wien. Im Spezialforschungsbereich Deutsch in Österreich arbeitet er in den Teilprojeken 11, 03 und 01 mit. LMB schreibt seine Dissertation zur vertikalen syntaktischen Variation in Wien und ist - wie im Text erwähnt - ein Betroffener, also Deutscher, der seit seinem Studium in Wien lebt.