Wie funktioniert Etymologie?
Dargestellt anhand der Etymologie des Wortes „Tschusch“

beantwortet von: Agnes Kim

Was ist Etymologie?

Diese Antwort beginnt mit einem Zirkelschluss, nämlich der Etymologie des Wortes „Etymologie“. Es stammt aus dem Altgriechischen etymología (ἐτυμολογία) und setzt sich aus den Wörtern étymos (ἔτυμος) ‘wahr, wahrhaftig’ und -logía (-λογία) ‘Lehre, Kunde von etwas’ zusammen. Geht es nach diesen beiden Bestandteilen, so ist Etymologie also die „Lehre von der wahren Bedeutung eines Wortes“. Sowohl die Sprachwissenschaft als auch die Alltagssprache versteht unter Etymologie allerdings die (Wissenschaft von der) Herkunft eines Wortes.

Und damit sind wir mitten im Zirkelschluss: Ich habe meine Antwort auf die Frage, was denn Etymologie sei, mit der Etymologie des Wortes „Etymologie“ begonnen. Ein solcher Beginn ist typisch für die Definition eines Begriffs, ganz so als gingen wir davon aus, ihn nur dann richtig verstehen und verwenden zu können, wenn wir seine Herkunft und damit seine „wahre Bedeutung“ kennen. Dies blendet jedoch aus, dass Wörter und Begriffe verschiedene Bedeutungen haben und diese auch verändern können.

Das zeigt auch, dass Etymologie mehr ist als nur die Erklärung der Herkunft eines Wortes. Sie ist vielmehr ein Instrument, um Wissen um die (vermeintliche) Geschichte dieses Wortes und damit auch den Inhalt des Wortes, also das, was durch es bezeichnet wird, zu erzählen und zu vermitteln. Etymologie ist also ein wirkmächtiges Instrument, um Sinn zu generieren. Daher verwundert es nicht, dass sie als sogenannte Volksetymologie auch außerhalb der Sprachwissenschaft verbreitet ist und etwa verwendet wird, um beispielsweise – meist in Form von Geschichten – unverständliche Ortsnamen zu erklären.

Weshalb interessiert mich die Forschungsfrage?

In der Folge möchte ich mich aber mit der Etymologie als Teil der Sprachwissenschaft beschäftigen und zeigen, wie sie nach wissenschaftlichen Kriterien funktioniert. Für mich in meinem beruflichen Alltag ist das insofern relevant, als ich mich in meiner Dissertation mit dem „Slawischen im Wienerischen“ beschäftige, also mit Wörtern, die aus den slawischen Sprachen oder vermittelt durch solche in den Wiener Dialekt gekommen sind. Auch für Antworten auf frühere Fragen des Monats, etwa zur Herkunft von „Topfen“ und „Quark“ oder des Wortes „Zwetschke“ habe ich etymologisch gearbeitet. In beiden Fällen habe ich verschiedene Nachschlagewerke nach Etymologien der untersuchten oder mit ihnen verwandten Wörtern durchsucht und diese einander gegenübergestellt. Gab es mehrere widersprüchliche Erklärungen, habe ich versucht nach wissenschaftlichen Kriterien abzuwägen, welche die wahrscheinlichste ist, wenngleich ich manchmal passen musste. Welche waren das? Oder:

Welche Kriterien müssen bei der Aufstellung oder Überprüfung einer Etymologie berücksichtigt werden?

Bei der Aufstellung und auch Überprüfung von Etymologien gilt es, zumindest drei verschiedene Kriterien im Auge zu behalten und im besten Fall die folgenden Fragen zu beantworten:

  1. Die lautgeschichtliche Entwicklung:
    • Wie hat sich das Lautsystem der untersuchten Sprache entwickelt? ♦ Die habe ich z. B. für die Entwicklung des Wortes „Zwetschke“ aus der mittelhochdeutschen Form *damáskîn in Form einer Tabelle Laut für Laut darzustellen versucht.
    • Oder, im Fall von Sprachkontakt: Wie haben sich die Lautsysteme der Sprache, aus der das Wort entlehnt wurde (der Gebersprache) und der, in die es entlehnt wurde (der Nehmersprache) entwickelt? Wie wurden die Laute der Gebersprache zu welchem Zeitpunkt in die Nehmersprache integriert? ♦ Ein Beispiel für solche Abwägungen finden Sie im Artikel zu Topfen und Quark, genauer in Bezug auf die Etymologie von „Quark“: Basierend auf dem Vergleich der Lautentwicklungen in den deutschen Dialekten und den slawischen Sprachen, können wir annehmen, dass slawisch tvarog zwischen dem 13. oder frühen 14. Jahrhundert im ostmitteldeutschen und nicht im süddeutschen Raum in die deutschen Dialekte entlehnt wurde.
  2. Die semantische Plausibilität: Kann die Bedeutung des Wortes in früheren Sprachstufen oder anderen Sprachen rekonstruiert werden? Wenn ja, stimmt sie mit der aktuellen Bedeutung überein? Kann eine eventuelle Bedeutungsveränderung plausibel erklärt werden? ♦ Auch für die semantische Plausibilität bietet die Etymologie von „Quark“, genauer jene von slawisch tvarog ein Beispiel: Die Herleitung aus gemeinslawisch *tvoriti ‚formen‘ kann aus semantischen Gründen zurückgewiesen werden, da Frischkäse wie Topfen im Gegensatz zu gereiftem Käse nicht geformt wird.
  3. Die Beleglage: Ab wann ist das Wort wo bzw. in welcher Sprache oder Sprachlage belegt? In welcher Bedeutung und in welcher Lautung?

Das dritte genannte Kriterium ist dabei zentral. Wenn wir einen Beleg finden, dessen Lautung oder Bedeutung der bisher gängigen Etymologie widerspricht, ist es an der Zeit, diese Etymologie zu verwerfen und eine neue zu formulieren.

Ein Beispiel: Die Etymologie des Wortes „Tschusch“

Als Illustration der Arbeitsweise bei der Überprüfung von Etymologien möchte ich eine weitere aus dem deutsch-slawischen Sprachkontakt anführen, wobei sich die Wichtigkeit des Umgangs mit Belegen gut zeigen lässt. Es handelt sich um die Etymologie des Wortes „Tschusch“ (Femininum: „Tschuschin“), einem in ganz Österreich weit verbreitetem Schimpfwort für besonders slawischsprachige Personen mit Wurzeln im Balkanraum, das früher auch spezifischer für Gastarbeiter*innen aus diesem Raum verwendet wurde. Ich wähle es, weil sich anhand dieses Beispiels über die Methode der Etymologisierung hinaus auch zeigen lässt, wie Etymologien Geschichte(n) und Stereotype vermittelt.

Die wohl bekannteste Etymologie des Wortes „Tschusch“ ist die Herleitung von der 2. Person Singular des bosnisch/kroatisch/montenegrinisch/serbischen Wortes čuti ‚hören‘, also čuješ? ‚Hörst du?‘, die sich Arbeiter vom Balkan etwa beim Bau der Südbahnstrecke zugerufen haben sollen, wenn Unklarheiten bestanden. Sie ist deshalb sehr eingängig, weil sie die Entlehnung des Wortes einerseits geschichtlich verankert und andererseits auch selbst eine Geschichte erzählt. Sie knüpft außerdem an die stereotype, aber ahistorische Vorstellung an, Personen aus dem Balkanraum seien in Österreich primär als Wanderarbeiter (bzw. im 20. Jahrhundert Gastarbeiter), insbesondere im Niedriglohnsektor tätig und auch schon im 19. Jahrhundert in diesem tätig gewesen.

Deutlich plausibler ist jedoch eine andere Etymologie, die von Robert Sedlaczek nicht nur in seinem Wörterbuch des Wienerischen, sondern auch in seiner Glosse vertreten wird: Er führt es auf das bosnisch/kroatisch/montenegrinisch/serbische ćuš(-ćuš) zurück, das insbesondere beim Eseltreiben als Signal eingesetzt wurde und daher mit Fuhrkommandos wie dem deutschen hü!, hott! oder brr! vergleichbar ist. Wahrscheinlich ist es mit gleichbedeutend türk. çüş in Verbindung zu bringen. Darüber hinaus kann bzw. konnte es Ende des 19. Jahrhunderts als einfaches ćuš zumindest in der Bačka im heutigen nördlichen Serbien auch auf das Tier, den Esel, übertragen werden. Ein Beleg dazu, dass es in dieser Bedeutung auch als Schimpfwort Menschen bezeichnen konnte, findet sich in – zumindest den von mir durchgesehen – Wörterbüchern nicht.

Hier kommen jedoch die Belege ins Spiel. Wenn ich vermute, dass es sich bei einem Wort um eine Entlehnung aus dem 19. Jahrhundert handelt, werfe ich gerne einen Blick in die Plattform ANNO (AustriaN Newspapers Online), auf der die Österreichische Nationalbibliothek historische Zeitungen und Zeitschriften in digitaler Form und im Volltext durchsuchbar zur Verfügung stellt. Den frühesten Beleg für die Buchstabenfolge „Tschusch“ in einer uns heute bekannten bzw. dieser ähnlichen Bedeutung findet sich in einem am 18. November 1900 in der Linzer Tages-Post abgedruckten Feuilletonroman mit dem Titel „Skizzen aus der Herzegowina“. Darin bezeichnet eine Protagonistin jemanden als „elende[n] Tschusch“, wobei letzteres Wort in einer Fußnote als „Schimpfname für die Einheimischen“ erklärt wird.

Dieser Beleg zeigt darüber hinaus auch, dass um 1900 das Wort noch erklärungsbedürftig war, also noch nicht im gesamten Österreich verstanden wurde. Daher ist es unwahrscheinlich, dass es bereits im Kontext der Errichtung der Südbahnstrecke (1842–1857) entlehnt wurde. Seine Verwendung in journalistischen Texten häuft sich erst Anfang des 20. Jahrhunderts, besonders im Kontext ethnographischer Beschreibungen oder Kriegsberichterstattung aus dem 1. Weltkrieg. Besondere Verbreitung fand es dann knapp als Schlag- und auch Kampfwort im Kontext des jugoslawisch-österreichischen Konflikts um Kärnten – aber das ist ein anderes Kapitel.

Die Beleglage bestätigt somit in diesem Fall die von Sedlaczek vorgeschlagene Etymologie.

Beantwortet hat diese Frage:

Mag.a Agnes Kim

Sie hat an der Universität Wien Slawistik mit Schwerpunkt Tschechisch und deutsche Philologie studiert und ist seit 2016 im Teilprojekt PP06 („Deutsch und slawische Sprachen in Österreich: Aspekte des Sprachkontakts“) angestellt. In seinem Rahmen beschäftigt sie sich vor allem historischem Sprachkontakt zwischen dem Deutschen und slawischen Sprachen in Wien und Ostösterreich.