Ist östlich von Linz alles Wienerisch?
beantwortet von: Jan Luttenberger
Wie bist du an die Frage herangegangen?
Unterschiede in der Sprache können in vielerlei Gestalt auftreten, etwa durch die Verwendung anderer Wörter, einen anderen Satzbau oder eine andere Aussprache. Ebenso müssen wir uns überlegen, welche Art von Sprache wir miteinander vergleichen: Vergleichen wir Gespräche unter zwei bekannten Personen miteinander? Die Aussprache beim Vorlesen?
Da mein Forschungsschwerpunkt auf der Phonetik, also der Laut- und Aussprachelehre, liegt und ich hauptsächlich in ländlichen Orten Dialektaufnahmen gemacht habe, möchte ich die Frage aus dem Blickwinkel der Aussprache des Basisdialekts betrachten. Beim Basisdialekt nehmen wir an, dass es sich um den kleinräumigsten, spezifischsten Dialekt einer Person handelt.
Welche Methode hast du gewählt?
In unserem Teilprojekt haben wir mit einer sehr klassischen Methode gearbeitet, einem Fragebogen mit Übersetzungsaufgaben. Dazu bin ich zu den Personen mit einem Mikrofon nach Hause gefahren und habe 541 einzelne Wörter und Sätze von den Sprecher*innen aus dem Standard- oder Schriftdeutschen in den jeweiligen Dialekt übersetzen lassen.
Nach den Aufnahmen beginnt meine eigentliche Arbeit als Phonetiker, denn jetzt muss ich zuerst die einzelnen Äußerungen auf der Aufnahme markieren und dann die Laute, die mich wissenschaftlich interessieren, auf ihre Aussprache und ihre akustischen Eigenschaften hin untersuchen. Das ist manchmal relativ einfach, wenn der Unterschied zwischen zwei möglichen Varianten so groß ist, dass wir ihn einfach durch Anhören leicht erkennen und unterscheiden können. In einigen Fällen aber sind die Unterschiede so klein und fließend, dass ich einen genaueren Blick auf die Eigenschaften des Sprachschalls werfe. Das wird durch ein mathematisches Verfahren – die sogenannte Fourier-Transformation – möglich. Der Sprachschall setzt sich aus vielen einzelnen Frequenzen zusammen, ein bisschen so wie ein musikalischer Akkord aus mehreren Noten besteht, die einen gemeinsamen Klangeindruck ergeben. Mit der Fourier-Transformation können die einzelnen Bestandteile des Sprachschalls errechnet und dann bildlich dargestellt werden. Diese Bilder heißen Spektrogramm und sehen so aus:
Hier hören wir einen Niederösterreicher aus Pulkau, wie er „Gib mir noch ein wenig Salz!“ im örtlichen Dialekt ausspricht. Aus diesen Bildern kann ich wichtige Frequenzen ablesen und anschließend verwenden, um einzelne Laute miteinander zu vergleichen. Ein Beispiel dafür werden wir später noch sehen.
Klingt nun alles östlich von Linz Wienerisch?
Zuerst einmal sage ich als Basisdialektforscher: Nein, es gibt sehr wohl Regionen im östlichen Oberösterreich, in Niederösterreich und im Burgenland, in denen der Dialekt deutlich vom Wienerischen abweicht. Ein besonders markantes Beispiel sind die sogenannten „ui“-Mundarten. Diese bekommen ihren Namen von Wörtern, die im Mittelhochdeutschen (das ist ganz grob gesagt das Deutsch, das im Mittelalter gesprochen wurde) die Lautfolge <uo> und <ie> enthalten haben. In den „ui“-Dialekten werden diese Wörter – naheliegenderweise! – mit einem /uɪ̯/ gesprochen, das wären z.B. „gut“ als /guɪ̯d/ und „Bruder“ als /bruɪ̯dɐ/ für <uo> und „Fliege“ als /fluɪ̯ŋ/ und „schießen“ als /ʃuɪ̯sn̩/ für <ie>. Diese Dialekte werden im Burgenland und im nordöstlichen Weinviertel gesprochen, wie etwa in Althöflein:
Ein anderes Beispiel für eine solche Besonderheit sind besondere Formen für das Zahlwort „zwei“. Es gibt ja im Deutschen drei verschiedene grammatische Geschlechter (oder Genera) – männlich, weiblich und sächlich, also „der“, „die“ und „das“. Im nordwestlichen Waldviertel passt sich das Zahlwort „zwei“ an das Genus an: Es heißt „zwee Hasen“, „zwo Fliegen“ und „zwoa Schlösser“.
Woher kommt dann die Vermutung?
Wenn es nun so eindeutige Fälle gibt, wo sich die Umgebung von Wien sprachlich abgrenzt, dann heißt das aber nicht, dass die Frage damit schon gänzlich beantwortet ist. Denn die oben genannten Beispiele sind zwar sehr spannend und zeigen die Vielfältigkeit der ostösterreichischen Dialektlandschaft, gelten aber nur für sehr kleine Gebiete. Zudem werden sie von jüngeren Sprecher*innen nicht mehr so häufig verwendet. Und damit wird die Frage wieder spannend: Woran passen sich denn die Jungen dann an?
Dazu möchte ich auf die Forschung von meiner Kollegin Johanna Fanta-Jende verweisen, die sich eingehend mit einer anderen Lautung aus dem Mittelhochdeutschen beschäftigt hat, nämlich dem <ei>. Es kommt in Wörtern wie „heiß“ und „breit“ vor und es gibt zwei Möglichkeiten, wie es in Ostösterreich ausgesprochen werden kann: Einmal als /oɐ̯/, wie es für den größten Teil des Bairischen Dialektraumes als Erkennungsmerkmal gilt, und einmal als /ɑː/, wie es typisch für Wien (und übrigens unabhängig auch für Kärnten!) der Fall ist. Gleich zu Beginn meiner Forschungsreisen ist mir dieser Kontrast zu Ohren gekommen, als ich in Pulkau das Zählen von 1 bis 3 aufgenommen habe.
Der Unterschied zwischen den Generationen macht deutlich, dass der Trend zum ursprünglich Wienerischen /ɑː/ hingeht. Woran liegt das? Es kann vermutet werden, dass das /ɑː/ als weniger ländlich und mehr urban angenommen wird, als weniger örtlich beschränkt und überregional. Wer einen leicht erkennbaren örtlichen Dialekt spricht, läuft mitunter Gefahr, als wenig kosmopolitisch und bewandert wahrgenommen zu werden, wie es schon meinem Kollegen Johann Willibald Nagl (1856 – 1918) im 19. Jahrhundert passiert ist (der im Übrigen nur wenige Kilometer von meiner eigenen Heimat aufgewachsen ist):
„im letzten Bauernhause vor dem Markte Neunkirchen geboren, hat er [Johann Willibald Nagl] an sich selbst alle Leiden dieses Kampfes schon seit der Volksschule durchgekostet: heute spricht er, um nirgends anzustoßen, mit seinen Angehörigen und den andern Dorfbewohnern seine o͡a, im Verkehre mit seinen alten Bekannten im Markte und selbst in Wien oft die «herrischen» ā, – die Schule und die gebildete Gesellschaft verlangen wieder das ei, – das sind eigentlich dreierlei deutsche Sprachen.“
So gesehen kann Sprache ein wenig mit Kleidung verglichen werden: Manche Sachen kommen in Mode, andere gelten als „out“. Doch je mehr sprachliche „Kleidungsstücke“ ich zur Verfügung habe, umso mehr Möglichkeiten habe ich, mich den jeweiligen Umständen entsprechend zu kleiden. Das sehen wir in der folgenden Grafik, die mir Johanna dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat.
Das ländliche /oɐ̯/ ist in Blau eingetragen, das Wienerisch beeinflusste /ɑː/ in Rot und das standardsprachliche /aɛ̯/ in Gelb. Wir sehen sehr schnell, dass beim Vorlesen und beim Übersetzen in die Standardsprache nur das /aɛ̯/ gebraucht wird. Spannender wird es, wenn dieselben Personen mit einem*einer Interviewer*in oder untereinander sprechen oder in den Dialekt übersetzen. Für unsere Frage besonders interessant sind die Orte Taufkirchen an der Pram in Oberösterreich, Neumarkt an der Ybbs in Niederösterreich und Neckenmarkt im Burgenland. Den entsprechenden Teil der Grafik habe ich rot umrandet. Tatsächlich sehen wir hier, dass in Taufkirchen westlich von Linz das Wienerische /ɑː/ fast gar nicht vorkommt, während es vor allem im Niederösterreichischen Mostviertel schon sehr häufig verwendet wird. Das Wienerische übt also anscheinend Einfluss auf seine Umgebung aus. Aber kann es sein, dass dieser Einfluss manchmal gar nicht so offensichtlich ist?
Auf den ersten Blick gleich, auf den zweiten Blick unterschiedlich?
Gemeinsam mit meinen Kollegen Philip Vergeiner, Lars Bülow, Dominik Wallner und David Britain bin ich einem anderen Phänomen aus dem Wienerischen nachgegangen, das in Fachkreisen als „Wiener Monophthongierung“ bezeichnet wird. Ist nicht so gefährlich, wie es klingt! Üblicherweise werden die Buchstabenfolgen <ei> und <au> wie in „weiß“ und „Haus“ als Zwielaute ausgesprochen, nämlich als /aɛ̯/ und /ɑɔ̯/. Im Wienerischen werden hier aber einfache Selbstlaute (Vokale) gesprochen nämlich sehr offenes [æ:] und [ɒː]. Das klingt dann so:
Nur – das war kein Wiener, sondern derselbe Waldviertler, der uns vorher über die Spezialformen von „zwei“ Bescheid gegeben hat!
Dieser Unterschied in der Aussprache ist natürlich deutlich schwieriger zu hören als der Unterschied zwischen /oɐ̯/ und /ɑː/. Hier kommen deswegen die Spektrogramme ins Spiel, die ich zu Beginn erwähnt habe, um die Aussprache „sichtbar“ zu machen:
In beiden Bildern sehen wir die Aussprache des Wortes „weiß“. Im linken Bild spricht ein Mann aus dem oberösterreichischen Ulrichsberg, im rechten Bild ein Mann aus dem niederösterreichischen Pulkau. Die weißen Linien auf den Bildern sind nachträglich eingefügt, sie kennzeichnen die sogenannten Formanten. Das sind bestimmte Frequenzbereiche bei Vokalen, die relativ laut sind und mit denen wir verschiedene Vokale voneinander unterscheiden können. Die Formanten – und damit der Vokal – ändern sich, wenn wir die Zunge im Mund bewegen. Genau das sollte bei einem Zwielaut wie dem [aɛ̯] geschehen, so wie im linken Bild. Im rechten Bild hingegen verändern sich die Formanten kaum, was auf einen einfachen Laut [æ:] hinweist. Bei diesen eindeutigen Beispielen ist der Unterschied auch recht gut hörbar:
Um die Bewegung in den Formanten zu vergleichen, haben wir eine Maßzahl errechnet und die Durchschnittswerte auf einer Karte eingetragen.
Auf der linken Seite ist die Aussprache von <ei>, auf der rechten Seite die Aussprache von <au> eingezeichnet. Oben sind die älteren Sprecher*innen, unten die jüngeren Sprecher*innen abgebildet. Je heller die Kreise desto weniger bewegen sich die Formanten in den Vokalen. In Niederösterreich und im Mühlviertel sind die Kreise fast vollständig weiß, die Aussprache entspricht also dem Wienerischen [æ:] und [ɒː]. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass sich diese Art der Aussprache von <ei> und <au> nicht nur im Dialekt, sondern auch in der Standardsprache in Ostösterreich finden lässt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass das Menschen aus Westösterreich, wo es das nicht gibt, eher auffällt, während Ostösterreicher*innen oft gar keine Ahnung haben, worum es geht.
Was ist deine Schlussfolgerung?
Fassen wir zusammen: Ist alles östlich von Linz Wienerisch? Ja und nein. Auf der einen Seite hat Wien als Hauptstadt Österreichs über Jahrhunderte weg immer wieder den Sprachgebrauch und die Dialekte in der Umgebung beeinflusst, wie wir an den Veränderungen der Vokale /oa/ und /aɛ̯/ bzw. /ɑɔ̯/ gesehen haben. Bei genauerer Betrachtung finden wir aber ebenso noch ganz spezifische Eigenheiten, die sich ganz deutlich vom Wienerischen abheben. Der „sprachliche Kleiderkasten“ ist also auch unter der Enns gut gefüllt. Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass ich hier natürlich nur einige wenige Beispiele herausgegriffen habe. Wie eingangs erwähnt, gäbe es noch viel mehr Möglichkeiten, die Sprache zwischen dem westlichen und östlichen Donauraum und ihren Sprecher*innen miteinander zu vergleichen – die Liste an Phänomenen könnte noch beliebig verlängert werden. Das macht die sprachwissenschaftliche Forschung so spannend!
Literatur
Fanta-Jende, Johanna (2021): Situational effects on intra-individual variation in German. Reflexes of Middle High German ei in Austrian speech repertoires. In Alexander Werth, Lars Bülow, Simone E. Pfenninger, Markus Schiegg (Eds.): Intra-individual variation in language. Berlin: De Gruyter Mouton (Trends in Linguistics. Studies and Monographs [TiLSM], 363), pp. 87–125.
Nagl, Johann W. 1983[1895]. Über den Gegensatz zwischen Stadt- und Landdialekt in unseren Alpenländern. In Peter Wiesinger (ed.): Die Wiener dialektologische Schule: Grundsätzliche Studien aus 70 Jahren Forschung (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 23), 71–75. Wien: Halosar.
Vergeiner, Philip; Luttenberger, Jan; Bülow, Lars; Wallner, Dominik und Britain, David (in prep.): Revisiting areal and lexical diffusion. The case of the Viennese Monophthongization in Austria’s base dialects.
Beantwortet hat diese Frage:
Jan Luttenberger, MA
Jan Luttenberger hat Angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Wien studiert und arbeitet am Institut für Schallforschung in der Forschungsgruppe Akustische Phonetik. Für das Teilprojekt 02 des SFB „Deutsch in Österreich“ hat er in Niederösterreich, Oberösterreich, der Steiermark und dem Burgenland Feldaufnahmen zu den örtlichen Basisdialekten durchgeführt. Momentan ist er mit der phonetischen Auswertung dieser Aufnahmen beschäftigt und untersucht unter anderem Phänomene wie die „Wiener Monophtongierung“ und den velarisierten Lateral in den ostösterreichischen Basisdialekten.